Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 4, 2.12.2022, 9.15 Uhr

Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 4,  2.12.2022, 9.15 Uhr

Lektüre, Analyse und Vergleich von drei zusammenfassenden Texten zum Reisen in Sachen Musik im 18. und 19. Jahrhundert:

(A) 1770: Charles Burney’s Reisen und musikalische Berichte

Auf das Gerücht hin, dort gäbe es etwas zu sehen und zu hören, ließ sich Charles Burney (1726–1814) von Florenz in das vierzig Kilometer südöstlich am Arno gelegene Figline chauffieren. Er fand »das Städtchen voller Landleute wie bei einem Landmarkte in England, allein wenig Kutschen und keine Leute vom Stande und Lebensart«. Um elf hörte der Italienreisende die Messe in der Hauptkirche und in dichtem Gedränge den »Abt Fibetti eine Motette mit einem außerordentlich feinen Geschmacke« singen sowie ein »niedliches Doppelkonzert«. Für die nachmittägliche Open-Air-Inszenierung eines geistlichen Schauspiels mit Unterstützung »alter Instrumente wie z.E. des Crotalon oder des Cybels« wurden »1.500 Bauern aus der Nachbarschaft beschäftigt, welche man drei Monate dazu vorbereitet hatte«, um bei David und Goliath als Israeliten und Philister gegeneinander zu marschieren, bis »David dem zu Boden geschleuderten Riesen den Kopf abhieb, viel Blut herausströmte, worüber eine Menge Zuschauer, die sich einbildeten, es sei das Blut des Menschen, der den Philister vorstellte, heftig erschraken«.

Auch wenn Burneys Hauptaugenmerk den Musikbibliotheken, Kompositionen und Aufführungspraktiken in den von ihm besuchten Städten und Ländern galt, sind seine Berichte eine ergiebige Quelle für das »Volksleben« im späten 18. Jahrhundert. Zum Schluss seiner Beobachtungen bei den Festivitäten in Figline hielt er fest: »Zum Ruhme der friedlichen Gesinnung der Toskaner muß ich bemerken, daß, ungeachtet hier wenigstens zwanzigtausend Leute bei dieser Gelegenheit versammlet und gar keine Wachen dabei waren, dennoch nicht der geringste widrige Vorfall oder Unordnung« zu vermelden war. Überhaupt sei ihm in ganz Italien kein einziger Betrunkener begegnet, was wohl auch damit zusammenhing, dass er sich eher bei Audienzen, in Kirchen und Theatern aufhielt als in Hafenvierteln.

Topographie der Hörvergnügungen

Vor seinem Aufbruch zum Kontinent »im Anfang des Monats Junius 1770« versicherte sich der 1726 geborene Musikhistoriker und Komponist einiger Vorzüge des Londoner Musiklebens: Er rühmte den ökonomischen Nutzen der Tonkunst nicht nur für deren Betreiber, sondern auch für »die wichtigen und menschenfreundlichen Zwecke«, z.B. die Unterstützung der Spendenakquisition für Witwen und Waisen der verschiedensten Berufsgruppen oder die Milderung der »Schmerzen der Gebärerinnen«. Im großen Ganzen folgte Burney dem schottischen Historiker Adam Ferguson, der resümierte, dass »der Fortschritt der schönen Künste zumeist Teil der Geschichte der wohlhabenden Nationen ist«. Peter Burke ergänzte: Dieser Fortschritt war zuerst in Italien zu beobachten, dann in den Hansestädten sowie den Niederlanden und erreichte von dort aus West-, Nord- und Osteuropa.

In Lille mokierte sich Burney über den Einsatz des Serpents bei Kirchenmusik. Paris war ihm nicht nur den Besuch mancher Messe wert, sondern veranlasste ihn auch zur Würdigung des Concert spirituel. Er versäumte nicht, die von Kardinal Mazarin gestiftete Bibliothek zu besuchen, sich über die auf Französisch nachgemachte italienische Oper zu ärgern und die Coffeehäuser am Boulevard im Vergnügungspark vor den Toren der Stadt zu besuchen. Dort hörte er »Musikanten und Sänger – wie die in Sadler’s Well zu London, aber noch schlechter. Die Sängerinnen gehen hier mit einem Teller herum und sammeln etwas für ihre Arbeit ein. Ungeachtet sie hier oft Arien à l’Italienne singen, so hängt ihnen in Ansehung des Ausdrucks die Erbsünde noch ebenso an als unsern englischen Sängern an dergleichen Orten« (ein gewisser Dünkel bleibt unüberhörbar).

Die Reise ging recht rasch weiter ins Land, wo die Zitronen blüh’n. Da zwar so gut wie alle denkmalwürdigen Gebäude, Statuen und Gemälde Italiens längst eingehend beschrieben worden seien, aber »der Konservatorien oder Musikschulen, der Opern und Oratorien kaum beiläufig erwähnt wird«, machte sich Burney daran, dies nachzuholen. Dabei verfolgte er den »Hauptzweck, eine Geschichte der Vergnügungen des Ohrs zu beschreiben«.

Vorzugsweise traf er sich mit Prominenten und interviewte sie – Grétry, Padre Martini, Jommelli, Metastasio, Hasse, Gluck, Vater und Sohn Mozart etc. Auf dem Land bei Genf will er das explizite Interesse des alten Voltaire erregt haben (»Mein Herz schlug mir beim Anblicke eines so außerordentlichen Mannes«), wohingegen er in Padua erst kurz nach dem »Leichendienst« für den »Teufelsgeiger« Tartini eintraf. Auch dort wurde er von gelehrten und praktizierenden Musikern minutiös ins Bild gesetzt. So ist die Nachwelt über die Höhe der Entlohnung des ersten Kastraten am Ort im Bilde (wenn denn die Gewährsleute zuverlässig referierten): Signor Gaetano Guadagni »bekommt jährlich 400 Dukaten, wofür er nur gehalten ist, an den vier Hauptfesten zu singen. Der erste Geiger hat ebenden Gehalt«.

In Venedig rühmte Burney nicht nur das respektable Niveau der »Conservatorios«, sondern die Straßenmusik auch außerhalb der Karnevalszeit, die in seinen Ohren so gut klang, »daß sie in jedem anderen Lande von Europa nicht allein Aufmerksamkeit erregt, sondern den Beifall würden gefunden haben, welchen sie billigerweise verdienten«. Hier wie in Bologna, Florenz, Rom, Neapel (und zuvor schon in Paris) reflektierte er nicht zuletzt Oper als Theaterpraxis, als »optisch und auditiv jenseits des Semantischen zu erfassendes Bühnengeschehen« (Michael Walter) und nicht primär – dem vorherrschenden Zug in der Publizistik seiner Zeit folgend – als »moralische Anstalt«.

Supremat der Musik

Der 1703 in London gestorbene französische Feldmarschall und Essayist Charles de Saint-Évremond hatte als Gewährsmann für die quasi selbstverständliche Arroganz gegenüber den Kulturen der Nachbarländer bezüglich der Gesangskünste resümiert: »Spanien schluchzt, Italien jammert, Deutschland brüllt, Flandern heult, nur Gallien singt«. Burney zeichnete ein sehr viel differenzierteres Bild in seinen Reportagen des Jahres 1770 und insbesondere auch mit den Berichten von einer zweiten großen Reise 1772/73 in die Niederlande, nach Deutschland und Österreich, wo das »Panorama unübersichtlicher als in Italien und Frankreich« war (Jürgen Mainka). Bezüglich der nationalen Überheblichkeit, zumal der »Langsamkeit in Begriffen und Handlungen« der Deutschen, wird man allerdings auch bei Charles Burney fündig.

Verwendete und weiterführende Literatur:

– Charles Burney, Tagebuch einer musikalischen Reise (1770), Neuausgabe Wilhelmshaven 1980; hier insbesondere S. 134–136, 22f., 33, 29, 21, 99, 49–51, 79, 81, 86 und 224.

– Jürgen Mainka, »Burney, Charles“, in: MGG2, PT, Bd. 3 (2000), Sp. 1319–1326.

– Peter Burke, Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung, München 1988, S. 11–14.

– Michael Walter, Oper – Geschichte einer Institution, Stuttgart 2016; hier insbesondere S. 380. 

– Tim Blanning, Triumph der Musik. Von Bach bis Bono, München 2014; hier insbesondere, S. 262.

Quelle: Frieder Reininghaus, Judith Kemp, Alexandra Ziane (Hg.): Musik und Gesellschaft. Marktplätze. Kampfzonen. Elysium, Königshausen & Neumann, Würzburg 2020, Bd. 1, S. 515–518.

(B) 1839: Reisen (von Sängerinnen im 19. Jahrhundert)

1839, also zu einem Zeitpunkt, an dem sich der Reisekomfort, die Reisezeit und die Gefahren­lage während einer Reise im Vergleich zum 17. und 18.Jahrhundert deutlich verbessert hatten, meinte ein Beobachter der italienischen Verhältnisse:

„Wenn die armen Sängerinnen einmal einem Impresario sich verschrieben haben, der in den meisten Fällen mehrere Bühnen auf einmal versorgt, so werden sie wie jede andere Waare be­trachtet, die man auf verschiedene Märkte sendet. Wie ein Kreuzfeuer geht es durch Italien, nach allen Spitzen der Windrose. Gewöhnlich gibt es in der Theaterwelt [ … ] vier Stagioni: Kar­nevale, Quaresima [Festenzeit], Primavera und Autunno. Kaum ist an einem Orte eine Saison zu Ende, so wird das Personal eingepackt und nebst Zubehör nach einer andern Stadt gesandt. Kaum daselbst angekommen, geht’s los. Die Mantelsäcke sind noch nicht geöffnet, die Hutschach­teln nicht losgebunden, so muß schon Probe gehalten werden. Und nun wieder eine Zeitlang unausgesezt vier bis fünf Vorstellungen in der Woche, die zahlreichen Proben daneben, und dann eine neue Reise in guter oder schlechter Jahrszeit, und dieselbe Historie von Anfang zu Ende. Man braucht sich nicht zu wundern, daß so viele Sängerinnen auf eine oder die ande­re Weise zu Grunde gehen: man sollte im Gegentheil sich wundern, daß manche diese Stra­patzen aushalten.“ (Morgenblatt für die gebildeten Leser 25./26.3.1839)

Die Impresari, die hier angesprochen werden, sind jene, die mit mehrjährigen Verträgen Sän­ger engagierten, um sie an allen Theatern, deren Impresa die Impresari hatten, einzusetzen. Aber natürlich mussten auch Sänger, die nicht bei solchen Impresari unter Vertrag standen, ständig reisen, weil sie bei fast jeder stagione das Opernhaus wechselten und bei einem ande­ren Impresario unter Vertrag standen. Im englischen System mussten wegen der vergleichswei­se langen season im 18. Jahrhundert zunächst Jahresverträge abgeschlossen werden. Die engli­schen Impresari waren infolge des Fanatismus des Publikums für italienische Sänger auf die aus Italien anreisenden Sänger angewiesen, die wiederum schon wegen der Reisekosten mög­lichst lange in London blieben. Im 19. Jahrhundert bezog man in London die Spitzensänger teilweise nicht mehr alle direkt aus Italien, sondern vom Pariser Théâtre Italien, was einen regelrechten jährlichen Pendelverkehr zwischen Paris und London auslöste. Dazu kamen die in London von anderen Regionen des Kontinents engagierten internationale Spitzensänger, z.B. jene von deutschen Hofopern, deren Anreisewege länger waren als die der Sänger aus Pa­ris. Französische Sänger in Paris waren, ebenso wie die Sänger an deutschen Hofopern, lang­fristig engagiert und reisten im 18. Jahrhundert nur in die französische Provinz, weil das von ih­nen gepflegte Repertoire außerhalb von Frankreich nicht gespielt wurde. Erst im 19. Jahrhun­dert kam es auch zu kurzfristigeren Engagements (obwohl ein- und mehrjährige Verträge die Regel blieben), weil mit dem Anschluss an das europäische Opernsystem durch die Gattung der grand opéra und die Popularität der opéra comique französische Sänger in Frankreich nicht mehr durch das Repertoire isoliert waren, was dazu führte, dass sie einerseits selbst reisten und andererseits in Paris zunehmend nicht-französische Sänger engagiert wurden, und sei es nur für kurze Gastspiele.

Die internationalen ‚Stars’ bereisten schon im 18. Jahrhundert ganz Europa, von Rom bis nach St. Petersburg und von Wien nach London. Eine Ausnahme bildete mangels Opernhäu­sern der größte Teil Osteuropas, wo allerdings spätestens seit dem 18. Jahrhundert mobile Truppen herumreisten. Im 19. Jahrhundert weitete sich der Reiseradius aus, weil immer mehr Sänger und Operntruppen seit den 1820er Jahren ihr Glück in Nordamerika, später dann auch in Südamerika suchten. Etwas schwächer war der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begin­nende ‚Zufluss’ amerikanischer Sänger nach Europa. Und im 20. Jahrhundert wurde die Opern­welt zunehmend zum globalen Dorf, in dem ein Opernstar heute in New York und wenige Tage später in Wien singt, um von dort zu seinem nächsten Auftritt nach Rom zu fliegen. Reisen war und ist für die meisten Sänger, deren Bedeutung mehr als eine lokale ist, eine Grundbedingung des Berufs. Dabei dürften die Sänger zu allen Zeiten, wie etwa Maria Malibran, wenig begeis­tert von den Beschwerlichkeiten des Reisens gewesen sein, die jedoch für den Erhalt hoher Ga­gen in kurzer Zeit in Kauf genommen werden mussten. Und vermutlich waren die Sänger auch wesentlich häufiger krank als wir heute wissen. Die europäischen Zeitungen berichteten sel­ten über die krankheitsbedingte Absage von Vorstellungen, aber ein amerikanischer Beobach­ter schrieb beispielsweise 1852 aus Dresden:

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich Glück oder Pech hatte, als ich hier die wichtigsten Sänger der Oper von St. Petersburg vorfand, die von ihrem Winter-Engagement in Russland zurückkom­men. Diese Leute scheinen immer von irgendeiner Indisposition geplagt zu werden [ … ]. An einem Abend war Pozzolini, der Tenor, krank – keine Oper; an einem anderen [Abend) Tarn­burini, der Bass, – wieder keine Oper; und zuletzt [Tacchinardi-]Persiani, der Sopran – schon wieder keine Oper.“ (Dwights’s Journal of Music 17.7.1852)

Das Reisen von Sängerinnen unterschied sich nur in einem Punkt von jenen der männlichen Sänger: Sängerinnen reisten bis zum Ersten Weltkrieg grundsätzlich nicht alleine, sondern im­mer in Begleitung. Wer mitreiste, richtete sich immer nach den Umständen: Schwester, Mut­ter, Bruder, Vater, Pflegevater, Tante, Gesangslehrerin, aber auch Freunde bzw. Lebenspart­ner oder Geliebte, manchmal sogar einfach nur gute Bekannte waren Reisebegleitungen von Sängerinnen. Als die junge Gemma Bellincioni im ausgehenden 19. Jahrhundert auf ihrer ers­ten Tournee in Spanien und Portugal war, reisten etliche Mütter von Sängerinnen und Ehegat­ten von »prime donne« mit (und in diesem Fall auch die Ehefrauen von Tenören und Baritonen). Henriette Sontag reiste auf einigen kürzeren Reisen mit Friedrich Beckmann, der damals noch nicht Hofschauspieler war, sondern 1824 am Königstädter Theater in Berlin für kleinere Rollen und als Garderobeinspector engagiert worden war. Maria Malibran reiste eine Zeit lang mit einer »Madarne Naldi«, einer Vertrauten, die bei ihr wohnte und auch Malibrans Geld verwal­tete. 1832 trennte sie sich von Naldi, als sie begann, mit dem Violinvirtuosen Charles-Auguste de Beriet zu reisen, ihrem späteren Mann. Giulia Grisi reiste mit Mario, mit dem sie auch of­fen zusammenlebte. In Düsseldorf machte sich im Januar 1843 »Mad. Ernst-Seydler, die für jugendliche Parthien unleidlich schien [ … ] mit ihrem Reisebegleiter, Herrn Gaudelius, plötzlich heimlich davon«. Pauline Lucca wurde auf ihrer Amerika-Tournee 1873 von Ihrer Mutter be­gleitet. Kathleen Howard wurde in ihrer Zeit in Europa von ihrer Schwester begleitet. Im Ge­gensatz zu Männern waren als Reisebegleitung bei Sängerinnen auch modische Tiere beliebt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehörte neben dem mitreisenden Ehemann auch ein Schoßhündchen schon fast zur ‚Standardausrüstung’. Die Reisebegleitungen der Frauen hatte vor allem eine Schutzfunktion vor Belästigungen auf der Reise, erfüllten aber auch organisato­rische Funktionen. Bei Männern und Frauen war, wenn sie es sich leisten konnten, die Mitnah­me mindestens eines Dieners (der häufig zugleich als Friseur fungierte) oder einer Magd üb­lich. Als Antoinette Saint-Huberty 1790 von Paris nach England reiste, wurde sie z.B. von einer Magd und zwei Dienern begleitet. Im ausgehenden 19. Jahrhundert ersetzte bei Sängern und Sängerinnen zunehmend ein Sekretär den Diener oder die Magd, oder er kam hinzu. Dieses Personal war auch ein Statussymbol. […]

Im Hinblick auf die Reisenden des Opernbetriebs bedarf die bei ‚Normalsterblichen’ bis ins 19. Jahrhundert hinein üblichste Art des Reisens keiner Betrachtung: die Reise zu Fuß. (Nur für den jungen Goldoni, den späteren Komödiendichter und Librettisten, war die Reise von Pavia nach Rom zu Fuß in Ermangelung von ausreichendem Reisegeld eine Option.) Sänger reisten wie Adelige mit den verfügbaren Verkehrsmitteln. Dennoch war Reisen im 17. und 18. Jahrhun­dert nicht nur beschwerlich, sondern auch zeitintensiv. Aber im 17. und 18. Jahrhundert hatten Reisende ein anderes Verhältnis zur Zeit als im 20. und 21. Jahrhundert, wie man schon dar­an erkennen kann, dass in Reiseführern und offiziellen Postdokumenten (also z.B. Verzeich­nissen der Posten, an denen man die Pferde wechseln konnte) nur selten die Rede von Reise­zeiten ist, aber immer von den Entfernungen, etwa von einem Posten zum nächsten, wohin­gegen man heute an Fahrpläne mit Abfahrts- oder Abflugzeiten und Ankunftszeiten gewöhnt ist, ohne dass man sich im Ernst über die zurückgelegte Strecke klar wäre. Die Kriterien ha­ben sich drastisch geändert: Heute interessieren Zeiten, im 18. Jahrhundert interessierten Stre­cken. Das hing auch damit zusammen, dass der größere Teil der Reisenden, nämlich Adelige, frei über ihre Zeit verfügen konnten. Diese freie Zeiteinteilung, die Nicht-Abhängigkeit von Zeiten, in denen einem Erwerb nachgegangen werden musste, war geradezu das Kennzeichen des Adels. Nicht weil sie über viel freie Zeit verfügten, sondern weil Reisezeiten oft unberechenbar sein konnten, wurde in italienischen Sängerverträgen (»scritture«) oder französischen Sänger­verträgen für Provinztheater im I9. Jahrhunderts oft ein Zeitraum von einigen Tagen festgehal­ten, innerhalb dessen sie am Theater, bei dem sie engagiert worden waren, einzutreffen hatten.

Die Reisenden planten ihre Reisezeiten individuell, ob mit dem Pferd, der normalen Post­kutsche oder der Extrapost. Das hing auch vom mitgeführten Gepäck ab. Ein eigenes Essbe­steck mitzunehmen war auch beim Reisen mit Pferden leicht möglich, eigenes Bettzeug und andere große Gepäckstücke mitzuführen erforderte aber auf jeden Fall eine Reise mit der Kut­sche oder mit zusätzlichen Packpferden. Bildungsreisende waren manchmal jahrelang unter­wegs, während Sänger wie andere Geschäftsleute an vergleichsweise kurzen Reisezeiten interessiert sein mussten. Dennoch darf man nicht außer Acht lassen, dass noch bis ins 20. Jahrhundert für die meisten Musiker jede Reise auch einen touristischen Nebenwert hatte. Noch Richard Strauss ließ auf seinen Reisen den Besuch keines Museums aus.

Quelle: Michael Walter, Oper – Geschichte einer Institution, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016, S. 37–40.

(C) 1854: Reiz der Karibik – Giovanni Bottesinis Abstecher

Das erste Drittel des 19. Jahrhunderts war für europäische Musiker von Geschmack und Gefühl von zwei prägenden Faktoren bestimmt: einerseits vom Wiener »Dreigestirn«, andererseits von Rossini. Zwischen diesen beiden Polen des Musiklebens ergaben sich mancherlei Facetten. Viele von ihnen sind, trotz der großen Mägen des Musikbetriebs, aus der Überlieferung herausgefallen. Dass es ein Virtuose, Dirigent und Komponist wie der aus einer Musikerfamilie in Crema bei Cremona stammende Giovanni Bottesini eher mit Rossini hielt, war naheliegend. Ab seinem fünften Lebensjahr erlernte er das Violin- und Bratschenspiel. Als 18jähriger verließ er 1839 – vielseitig, aber vornehmlich als Kontrabassist und Tonsetzer ausgebildet – mit besten Noten und einer Prämie das Mailänder Konservatorium. Für die 300 Lire, die ihm die Lehrer mit auf den Weg gaben, kaufte er einen dreisaitigen Kontrabass. Auf diesem Instrument, das er einen Ton höher als üblich stimmte, konzertierte er sein Leben lang: quer durch Europa von England bis Russland, von Norwegen, Schweden und Dänemark bis nach Spanien und Portugal. Auch in Nord- und Mittelamerika stand er im Rampenlicht. Die Literatur für seine virtuosen Auftritte und Einlagen schrieb er sich in der Regel selbst – nach dem Brauch der Zeit (und dem Muster Paganinis), wobei die technischen Optionen durch seine vier Konzerte für Kontrabass und Orchester erheblich erweitert wurden. Insbesondere das erste dieser Konzerte in fis-moll wird heute noch gelegentlich genutzt.

Rasch wurde Bottesini ein weltläufiger Mann und entwickelte eine beachtliche Produktivität: Für das Theater in Havanna, wohin er (zusammen mit Luigi Arditi) 1846 als Solobassist, Korrepetitor und Dirigent ging, schrieb er Cristoforo Colombo (oder Colón en Cuba). Auf der karibischen Insel hatte das Musikleben mit der 1814 in Havanna gegründeten Academia de Música und der von 1816 an mit ihr in Konkurrenz tretenden Academia de Música Santa Cecilia einen bedeutenden Aufschwung genommen: Komponisten wie Manuel Saumell Robredo und Ignacio Cervantes suchten einen nationalkubanischen Ton zu etablieren gegen den vorherrschenden Import italienischer und französischer Klaviermusik und Opern, an dem sich auch Bottesini mehrere Jahre lang erfolgreich beteiligte.

Nach Erfüllung seiner kubanischen Mission fuhr dieser noch etwas weiter nach Westen, erreichte über den Hafen Veracruz Mexiko. In der Hauptstadt des Landes bespielte Max Maratzeks reisende Operngesellschaft in der Saison 1852 das prächtige Teatro Principal, das an der Stelle des 1722 abgebrannten Teatro Coliseo errichtet worden war. In der übernächsten Saison konkurrierten zwei Compagnien um das lukrative Geschäft – die eine unter Leitung von Pedro Carvajal, die andere unter René Masson. Der hatte immerhin eine der berühmtesten Sängerinnen Europas aus Frankreich mitgebracht: Henriette Sontag aus Koblenz, die in Mexico für Sontagsfieber sorgen sollte, jedoch bereits am 16. Juni 1854 dort an hitzigem Fieber oder Cholera verstarb. Bottesini überlebte den Abstecher an den Fuß des Popocatépetl. Im Lauf des Jahres 1853 soll er beauftragt worden sein, Vorbereitungen für die Gründung eines staatlichen Konservatoriums in Mexico City zu treffen.

Bereits seit 1838 bestand dort eine von Agustín Caballero und Joaquín Beristaín gegründete private Academia. Diese bildete schließlich auch den Kern der nach einigem Hin und Her unter der Aufsicht der Sociedad Filarmónica Mexicana eingerichteten Hochschule. 1866 nahm sie den Lehrbetrieb auf und wurde elf Jahre später offiziell als Conservatorio Nacional de Música in staatliche Obhut überführt. Welche Rolle Bottesini im Prozess der Genese dieser Bildungsanstalt spielte (und warum er den Auftrag der Institutsgründung nicht wirklich ausführen konnte oder wollte), ist aus den offiziellen Annalen nicht mehr ersichtlich. Wenn es überhaupt stattfand, dann war sein musikpädagogisches Engagement jedenfalls von kurzer Dauer. Denn spätestens 1855 hatte sich der vielseitige Mann bereits wieder ganz und gar in Paris festgesetzt, übernahm zusammen mit Hector Berlioz die Leitung des Orchesters bei der Weltausstellung und schrieb dort u.a. L’assedio di Firenze für das Théâtre Italien (1856), das ihn auch als Dirigenten verpflichtete. 1862 brachte er in Palermo die Oper Marion Delorme heraus, 1871 am Lyceum Theatre in London Alì Babà. Im selben Jahr ließ er sich dann nach Ägypten anwerben. In seine Zeit als Dirigent am Opernhaus in Kairo – bis 1877 – fällt die von ihm geleitete Uraufführung der Aida von Giuseppe Verdi. Der empfahl, als er 1879 in Turin Bottesinis Ero e Leandro (nach einem Libretto von Arrigo Boito) und im Jahr darauf dort auch La regina del Nepal herausgebracht hatte, den inzwischen 58jährigen Kollegen für den Posten des Konservatoriumsdirektors in Parma. Doch keine sechs Monate nach Amtsantritt starb dieser dort nach einem außerordentlich erfüllten Leben. Beerdigt wurde der Ritter vom tiefen E unmittelbar neben dem »Teufelsgeiger« Niccolò Paganini.

Verwendete und weiterführende Literatur:

– Luigi Inzaghi u.a. (Hg.), Giovanni Bottesini: Virtuoso del contrabbasso e compositore, Milano/Mailand 1989.

– Alfred Planyavsky/Herbert Seifert, Geschichte des Kontrabasses, Tutzing 1984.

Quelle: Frieder Reininghaus, Judith Kemp, Alexandra Ziane (Hg.): Musik und Gesellschaft. Marktplätze. Kampfzonen. Elysium, Königshausen & Neumann, Würzburg 2020, Bd. 2, S. 65–67.

Aufgabenstellung:

Fassen Sie bitte in Stichworte, die Sie bitte schriftlich fixieren:

  1. Analyse der Text-Inhalte:

– Welche Regionen geraten ins Blickfeld der Texte (A) zu Burney, (B) zu den Sänger*innen und (C) zu Bottesini?

– Welche Motivationen bestimmten die verschiedenen Formen der Reisen und wirkten sie sich auf die Reiseverläufe aus?

– Schlagen sich zeit- und sozialgeschichtlichen Aspekte in den Texten nieder und wenn ja, wie?

  1. Vergleich der Form und der Schreib-, Darstellungs- bzw. Deutungsstile:

– Aus welchen Blickwinkeln wird das Reisen wahrgenommen und geschildert?

– Wie beurteilen Sie den Anteil belletristischer Komponenten bzw. dessen Vermeidung zugunsten sachtextlicher „Nüchternheit“?

– Fühlen Sie sich jeweils gut / hinreichend / ungenügend informiert oder mit Detailinformationen überbeansprucht?

– Stellte sich ein gewisses Lesevergnügen oder Verdruss bei der Lektüre ein?

 

Zur Diskussion gestellt:

Ästhetische Verdikte

Unter den ältesten zivilisatorischen Errungenschaften findet sich das Urteil – der „Wahrspruch, den der Richter erteilt“. Indem Normenverletzungen nicht mehr blindlings gerächt wurden, bildete sich mit geordneter Herrschaft Strafrecht heraus. Mit ihm eröffnete sich den Angeklagten ggf. die Möglichkeit zu Rechtfertigung und Gnadengesuch. Indem die Horden dann sesshaft wurden, entwickelten sich Schlichtungsverfahren für Streitigkeiten um Nutzung von Land und Ressourcen, Eigentum und Erbe, Ehre oder Unterhaltsforderungen – daraus erwuchs Zivilrecht. Bis heute ist es den verschieden Modellen zur Regulierung des rechtsförmig gerahmten menschlichen Zusammenlebens allerdings nur bedingt gelungen, das, was subjektiv als Benachteiligung, Demütigung und ärgerlich empfunden wird, aus der Welt schaffen. Weshalb von Zeit zu Zeit der Wille zur Korrektur sich unflätig oder gewaltsam entlädt (vor allem, wenn die zuvor Privilegierten zu lange harthörig blieben). Das Jahr 2011 hat in dieser Hinsicht an der Gegenküste des Mittelmeers Lektionen erteilt (im Zuge der „Arabellion“). Auch „die Geschichte“ verhängt Verdikte.

Recht aufschlussreich erscheint, dass noch vor den frühsten Erwähnungen von juristischen Urteilen bereits das Problem einer ästhetischen Entscheidungsfindung auftaucht. Der Präzedenzfall ereilte einen schwererziehbaren Sohn des trojanischen Königs Priamos, der hinsichtlich einer Meinungsverschiedenheit in der Götteretage zum Schiedsrichter auserkoren wurde. Drei möglicherweise nur bedingt korrekt gekleidete Damen aus dem Zentrum der Macht – die mit robustem Mandat ausgestatte Chefgattin Hera, die kühl-rational-schnippisch-jungfräulich auftrumpfende Athene und die für entscheidende Dimensionen des Glücks zuständige Aphrodite – nötigten den Prinzen unter Einsatz weitgehender Versprechungen zur Festlegung der delikatesten Art: welcher von ihnen der bei der Hochzeit von Peleus und Thetis in die Göttinnen-Runde geworfene goldene Apfel mit der Aufschrift kallistá zustehe („Der Schönsten“).

Tatsächlich hatte der leichtfertige Paris versäumt, seinen Kant zu lesen; war sich daher nicht gewärtig, dass „das Geschmacksurteil kein Erkenntnisurteil (weder ein theoretisches noch praktisches), und daher auch nicht auf Begriffe gegründet, oder auch auf solche abgezweckt“ ist (Kritik der ästhetischen Urteilskraft, § 5). Er zog die Möglichkeit nicht in Erwägung, sich für begriffsstutzig oder unzuständig zu erklären – zum letztendlichen Nachteil seiner Vaterstadt und seines eigenen. Die von seiner Entscheidung für das Venus-Primat und „die Liebe der schönsten Frau“ zurückgesetzten Rivalinnen rächten sich. Wie seitdem üblich bei öffentlichen ästhetischen Urteilen (die heute bevorzugt in der besonders korrupten Kunstgestalt der Evaluierung erscheinen), war auch beim allerersten Ranking keine Berufungsinstanz vorgesehen. Überhaupt spielte zu viel unbändig Subjektives mit. Nicht zuletzt die Vorteilsnahme.

Ernsthaft lässt sich nicht bestreiten, dass auch die drei Kritiker-Generation am Anfang des 21. Jahrhunderts – die „älteren Pharaonen“, die anpassungsfähigen Moderatoren in der Mitte und die jung-smarten MusikreisebegleiterInnen – hinsichtlich der Verbandelung mit Karriereambitionen, Machtinteressen, Bandenbildung und größeren oder kleineren Geldflüssen im real existierenden Betrieb fest und unverbrüchlich auf den Schultern der Altvorderen stehen. Ästhetischen Urteilen wird fürderhin mit kurzen Wegen bei der Vergabe lukrativerer Schreibaufträge nachgeholfen, mit geldwerten Vorteilen (wie Bezahlung von Übernachtungs- und Reisekosten bis nach China oder Kurdistan), mit ein bisschen Teilhabe am „Puls der Tonkunst“ und am Glanz des Theaters. Manche persönliche Bekanntschaft ist da hilfreich, Loyalitäten zahlen sich bei der Besetzung einer der raren Stellen aus. Selbst entfernte verwandtschaftliche Beziehungen können ein Lob um ein paar Dezibel anheben oder einen fälligen Tadel abdämpfen – nicht nur in Italien, Frankreich oder Ungarn. Das alles ist die Regel, gerade auch im „Qualitätsjournalismus“ und im (halb-)staatlichen Rundfunk. Und nicht nur in den Redaktionen für „Auto und Motor“.

Ist es jedoch nicht eine vertrackte Sache mit dem Urteil und dessen Spätfolgen, an die bei Abfassung nur die gewieftesten Taktiker denken? Prinz Paris, der in den vorübergehenden Genuss der (bereits mit König Menelaos verheirateten) schönen Helena kam, wäre dem Unheil übrigens auch nicht entkommen, wenn er eine Ziege am Wegesrand prämiert hätte. In diesem Fall hätte der Prinz vielleicht den reisenden Stegreif-Poeten und den Bänkelsängern, diesen Vorläufern der Radiomacher und TV-Comedians, eine kurze Freude bereitet, aber doch auch den Zorn der Aphrodite und der „schönsten Frau“ (Helena) auf sich gezogen (also: ggf. ebenfalls Höchststrafe).

„Es kann keine objektive Geschmacksregel, welche durch Begriffe bestimmte, was schön sei, geben“ (Kant, § 17). Dennoch haben die Ästhetiker, die den Betrieb begleitenden Berichterstatter und Kritiker in der Ära der Aufklärung wie dann insbesondere auch im 19. Jahrhundert, in dem der Musikmarkt so gewaltig expandierte, beharrlich versucht, das Geschmacksurteil nach besten Kräften objektiv zu fundieren. Sie haben im Extremfall hierzu sogar den „Weltgeist“ bemüht. Johann Mattheson (1681–1764) fand Kategorien dank seines kaufmännisch geschulten Positivismus und Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791) vermittels ungebärdig-kritischer Beobachtung des Musiklebens seiner Zeit. Der Sammler Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795) entwickelte die obsessive Annahme, auch in res musicae ließe sich Wahrheit und Irrtum, Lüge bzw. Falschheit „beweisen“. Immerhin öffnete dieser preußische Ordnungsgeist den Juristen die Vordertüren zu den Kritikerbänken: dem Multitalent E.Th.A. Hoffmann (1776–1822), dem Beethoven-Apologeten Adolf Bernhard Marx (1795–1866) und Eduard Hanslick (1825–1904), mit dem das Musikrichterwesens aus dem Geist des Musikalisch-Schönen und das selbstgerechte Kunsturteil seinen Zenith erreichte.

Letztendlich erfolgreich bäumte sich Richard Wagner gegen Hanslick und die „konservierenden, restaurationssüchtigen“ Urteile über Musik auf (gegen das „Stöhnen der Impotenz und Feigheit“). Bereits 1852 beschrieb er stellvertretend für die Komponistengilde die „bedürfnisvolle Stellung zur Kritik“ (also den Willen, als zutreffend und „gerecht“ empfundene Urteile anzuerkennen). Auch Bertolt Brecht ging von einer Bedürftigkeit des Künstlers aus, die mit pädagogischem Geschick befriedigt werden solle: „Die Kritik muss den Künstler unter Berücksichtigung des Materials, das ihm zu Verfügung steht, zwingen, aus diesem Material so viel zu ma­chen, als er kann.“ Im übrigen rechnete Brecht bereits 1920 den Beruf der Kritiker zu den therapeutischen: „Es ist die Unverschämtheit der Unfähigkeit, der Kritik bloße ‚Berichterstatterdienste’ zuzu­muten. Man heilt den Hustenden nicht dadurch, dass man ihm den Mund zu­bindet.“ (Schriften zum Theater, Frankfurt/Main 1964, Bd. I, S. 44f.). So mag es dann kommen, dass ästhetische Urteile außer Empfehlungscharakter auch die Funktion von Hustenbonbons oder Blitzableitern annehmen können und – im glücklichsten Fall – „Botenstoffe für die Zukunft“ enthalten.

Quelle: ÖMZ 6/2011 Das andere Lexikon, S. 106f.