Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 1

Uni Salzburg 2022/23 „Stil und Form – Schreiben über Musik etc.“ – Arbeitsmaterial für 1. Sitzung am 21.10.

 

Text B: „Streiflicht“ in einer seriösen überregionalen deutschen Tageszeitung vom 19.8.2022:

Selbstauswilderung

Waren das noch Zeiten, als Georg Rösch von Gerolds­hausen 1558 die Hauptein­nahmequelle des Ortes so beschrieb: „Swatz ist aller perckhwerck muater zwar / Davon nert sych ayn gar gross schar.“ Längst ist die Kuh, die man hier melkt, nicht mehr der Berg, son­dern der Tourist. Und die Mutter aller Bergwerke, Schwaz in Tirol, ist heute Wohnort des in Österreich weithin bekannten Dramatikers und Schau­spielers Felix Mitterer, der vergange­nes Jahr im Alter von dreiundsiebzig Jahren aus seiner Wahlheimat Südti­rol nach Nordtirol übersiedelte. Davor hatte er lange auf der Schriftsteller als Steuerparadies ködernden Insel Irland verbracht. Zeit für den Lebensabend auf heimatlicher Scholle. Doch das Glück nahe der Inntalautobahn währ­te nicht lang. Die Tiroler Behörden stellten dem berühmten Mann – er hatte in den Neunzigerjahren mit sei­ner „Piefke-Saga“ Fernsehgeschichte geschrieben – die Aufforderung, er möge seine Einkünfte für das Jahr 2019 nennen sowie jene für das lau­fende Jahr schätzen, damit man ihm die in Tirol gesetzlich verankerte Tou­rismusabgabe für Unternehmer abknöpfen könne: Mitterer schaltete Landeshauptmann und Kulturlandes­rätin ein, man fand eine geschmeidige Lösung – da seine Einkünfte außer­halb Tirols erzielt würden, habe man ihm die Abgabe erlassen wollen. Aber da war Mitterers Entscheidung schon gefallen, die Wohnung wieder gekün­digt. Begründung: Egal wie hoch, er lehne die Abgabe aus Prinzip ab. Nicht er müsse eine Abgabe zahlen, sondern der Tourismus ihm. Stellt man in Rechnung, wie viel der Autor für die Bekanntheit seiner Heimat im Land der Piefkes getan hat, kann man das nachvollziehen. Der in vier Teilen zwischen 1990 und 1993 ausgestrahlte Fernsehfilm machte sich über norddeutsche Sommerfrischler ebenso lus­tig wie über die Einheimischen in Gastronomie und Hotellerie, wirklich gut kommt keine der beiden Seiten weg. Mitterer arbeitet derzeit an einem fünften Teil, Auslöser war der Umgang mit der Covid-Pandemie im, so der Autor, früher „hundsarmen“, heute „hundsreichen“ Ischgl. Mitterer ist nicht der Erste, der sich an der Tou­rismusabgabe stört, und natürlich ist jetzt eine Debatte aufgeflammt, die deren Abschaffung respektive konse­quente Durchsetzung fordert. Der Autor selbst zieht schon im Oktober weiter ins innerösterreichische Aus­land. Im Gespräch sind die Bundes­länder Ober- und Niederösterreich, also die Heimat all jener Urwiener, die aus dem Reichraminger Hintergebirge, dem Traun- oder Strudengau stammen. Literaturbiologen, da wird eine Langzeitbeobachtung fällig: Gelingt dem Tiroler Felix Mitterer die artgerechte Selbstauswilderung?

 

Text A: Feuilleton-Artikel in einer Wiener Tageszeitung vom 17.8.2022:

Wegen Tourismusabgabe verlässt der Tiroler Autor Felix Mitterer seine Heimat

Schwaz. Der Tiroler Autor Felix Mitterer hat sich – nachdem er Mitte 2021 mit seiner Frau Agnes Beier in sein Heimatbundesland zurückgekehrt war – laut Medienberichten dazu entschieden, dieses spätestens Ende Oktober wieder zu verlassen. der Grund: Das Land forderte auch von ihm die Tourismusabgabe, die jeder Unternehmerin und jeder Unternehmer in Tirol automatisch leisten muss, wenn sie Teil der „am Tourismus direkt oder auch nur in direkt partizipierenden Wirtschaft“ sind. Daran stieß sich der Dramatiker offenbar: „Der Verfasser der ‚Piefke-Saga’ kann keine Tourismusabgabe zahlen.“ Der Tourismus sollte der Kunst etwas zahlen, nicht umgekehrt.

Zuvor hatte er laut „Tiroler Tageszeitung“ (Mittwochsausgabe) den Kontakt zu Landeshauptmann Günther Platter gesucht und um Vermittlung von Kulturlandesrätin Beate Palfrader (beide ÖVP) gebeten. Eine vom Landeshauptmann offenbar in Aussicht gestellte „Tiroler Lösung“ – dem Vernehmen nach stand im Raum, dass ihm die Abgabe erstattet werden könnte – lehnte Mitterer ab. „Es geht nicht ums Geld, es geht mir ums Prinzip“, so der 74-jährige Schriftsteller, der „seinen Lebensabend“ in der Bezirkshauptstadt Schwaz verbringen wollte. „Egal, ob die Abgabe nun 100 Euro oder 30 Cent beträgt – ich werde das nicht zahlen“, stellte er klar.

Wohnung in Schwaz gekündigt

Die Post der Tourismusabteilung des Landes Tirol hatte den Dramatiker im März erreicht. Er wurde darin aufgefordert, seine Umsätze seit 2019 anzugeben – und jene für 2022 zu schätzen. Auf Grundlage dieser Angaben sollten die „Pflichtbeiträge nach dem Tiroler Tourismusgesetz“ erhoben werden, die Mitterer zu entrichten habe.

Gerhard Föger, Leiter Tourismusabteilung des Landes, sagte der Tirol-Ausgabe der „Kronen Zeitung“ (Mittwochsausgabe), Mitterer habe schriftlich wissen lassen, dass die betreffenden Umsätze gänzlich außerhalb Tirols erzielt worden seien. Daraufhin sei er davon in Kenntnis gesetzt worden, dass die genannten Jahre beitragsfrei seien und keine Vorschreibung erfolgen werde. Somit sei die Angelegenheit positiv erledigt.

Medienberichten zufolge hatten Mitterer und Beier ihre Wohnung in Schwaz jedoch bereits gekündigt. Wohin sie ziehen werden, sei noch unklar. Vermutlich könnte es die beiden nach Nieder- oder Oberösterreich verschlagen – in die Nähe ihrer beiden Töchter.

„Piefke-Saga“ sei „genug Werbung“

Die „Piefke-Saga“, ein satirischer Fernsehmehrteiler über die Untiefen des touristischen Treibens in Tirol, machte Mitterer Anfang der 1990er-Jahre weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Obwohl das Werk mit der gewinnorientierten Gastfreundlichkeit in den hiesigen Hotelhochburgen hart ins Gericht ging, entwickelte sie sich zur unbezahlbaren Tirol-Werbung. „Ich habe damals Briefe aus ganz Deutschland gekriegt, die sich nach der Lage des fiktiven Dorfes Lahnenberg erkundigten“, erinnerte sich Mitterer und unterstrich: „Ich habe mit meinem Gesamtwerk wohl genug Werbung für Tirol gemacht.“

Felix Mitterer ist nicht der erste Tiroler Kulturschaffende, der sich an der verpflichtenden Tourismusabgabe stößt. Widerstand gegen den seit 1927 eingehobenen Pflichtbeitrag hatte etwa auch der Komponist Werner Pirchner geübt. Letztlich hatte in diesem Fall vor gut 30 Jahren eine Intervention des damaligen Landeshauptmanns Wendelin Weingartner eine Zwangsvollstreckung verhindert.

Neos fordern Abschaffung, Grüne „Ökologisierung“

Mitterers Abwanderung rief am Mittwoch auch Neos-Landessprecher Dominik Oberhofer, der sich als pinker Spitzenkandidat wenige Wochen vor der Landtagswahl am 25. September im Wahlkampf befindet, auf den Plan. Er forderte ein Aus der Tourismusabgabe. Diese sei „längst überholt und kann nicht gerecht aufgesetzt werden“, so seine Argumentation. „Während selbst Kulturschaffende mit der Abgabe belastet werden, zahlen die großen Hauptprofiteure des Tiroler Tourismus wie Booking.com, Airbnb oder Expedia keinen Cent“, meinte Oberhofer.

Die Grünen stießen sich indes – in Person des Kultur- und Tourismussprechers LAbg. Georg Kaltschmid – an der Ankündigung Platters bezüglich einer „Tiroler Lösung“. Kaltschmid erteilte einer möglichen „Bevorzugung“ eine Absage: Die Tourismusabgabe müsse „für alle oder für niemanden gelten“, so der Landtagsabgeordnete. Anstatt einer wie von den Neos geforderten Abschaffung trat seine Partei für eine „Ökologisierung“ ebendieser ein. „Eine ökologische Zweckbindung der Mittel und ein Anreizsystem durch Verminderung der Beitragshöhe für nachhaltige Betriebe wären höchst an der Zeit. Eine Abgabe sollte einen Lenkungseffekt haben. Derzeit tut sie das nicht“, legte Kaltschmid die Gründe dar. (APA, luza, 17.8.2022)

 

Aufgabenstellung:

  1. Vergleichen Sie bitte Text B mit dem zwei Tage zuvor erschienenen Text A:

– Welche wesentlichen Informationen werden übernommen und weitergereicht, welche entfallen?

– Wurden hinsichtlich der Darstellung des Sachverhalts (Wohnungswechsel eines Schriftstellers) Akzente verschoben und wenn ja, wie?

– Welche substantiellen Informationen sind in B hinzugekommen?

2.  Wie verhalten sich die beiden Texte, die offensichtlich nicht auf eigene Recherchen ihrer Autor*Innen zurückgehen, zu den von ihnen verwendeten Quellen wie Tiroler Tageszeitung oder APA? Ist Ihnen der Hintergrund von Mitterers Verdiensten um die Werbung für das Urlaubsland bekannt? Kennen Sie die „Piefke-Saga“ und die Hauptquelle/den Hintergrund, aus dem deren Plot schöpfte? Ist Ihnen die Herkunft des Kosenamens für die Deutschen bekannt? Zu all diesen Aspekten: siehe die Texte aus der ÖMZ und der Anthologie Musik und Gesellschaft (Würzburg 2020).

3. Analysieren und bewerten Sie bitte die Argumentation Felix Mitterers gegen die Entrichtung der „Tourismusabgabe“ durch einen Bürger seiner Sorte; ebenso die Forderung, „der Tourismus“ solle „der Kunst“ etwas bezahlen.

4. Wie verhalten sich die beiden Texte zur Frage einer rechtlichen bzw. gesellschaftlich-faktischen Sonderstellung von Schriftstellern, Künstlern (oder sonstigen Prominenten) in steuerrechtlichen/steuerlichen Fragen („Tiroler Lösung“)?

5. Kommentieren Sie bitte die Anspielung auf das „Steuerparadies Irland“.

– Wenn Künstler oder Autoren unternehmerisch oder unternehmerähnlich tätig sind, sollen sie dann Ihrer Meinung nach auch die Vor- und Nachteile einschlägiger Steuergesetze genießen? Sehen Sie Probleme bei der rechtlichen Eingruppierung von Künstlern und Autoren in die generelle Rubrik der „Selbständigen“ und/oder der „Unternehmer*innen“?

6. Das „Streiflicht“ beginnt mit einer kleinen Pointe, zu der dem/der Autor/in „Der fürstlichen Grafschafft Tyrol Landtreim“ von Georg Rösch von Gerolds­hausen verholfen hat (der Wortlaut steht im Netz). An welche Lesertypen ist das Aperçu aus dem Schatzkästchen des wikipedia-Wissens adressiert?

7. Ziehen Sie bitte ein Fazit hinsichtlich des Ge- oder Misslingens der Schlusspointe.

Überwiegt bei Ihnen insgesamt der Eindruck, bei „Selbstauswilderung“ handle es sich um eine eigenschöpferische Leistung des/der Autors/Autorin oder sehen Sie eher Wilderei am Werk? Oder Vampyrismus?

Hintergrund: Materialien zu Piefke und der Piefke-Saga

 

–> Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) 1/2015 Thema „1815“

Piefke zum Zweihundertsten

Statt eines Lexikoneintrags (der in den einschlägigen Nachschlagewerken fehlt)

 

Spätestens Anfang der 90er Jahre war die fernsehgebildete Welt im deutschsprachigen Raum darüber in Kenntnis gesetzt, was es mit „den Piefkes“ auf sich hatte. Wilfried Dotzel und Werner Masten drehten 1990 im Zuge einer Gemeinschaftsproduktion des Norddeutschen Rundfunks (NDR) und des ORF einen Dreiteiler nach dem Drehbuch des Schriftstellers und Dramatikers Felix Mitterer. Der hatte ein Hauptmotiv von Ralph Benatzkys Berliner Erfolgsoperette Im weißen Rößl (1930) und zahlreicher Heimatfilme der 50er bzw. 60er Jahren aufgegriffen: Den alljährlich sich wiederholenden Einmarsch wohlhabender Norddeutscher, vornan preußisch sozialisierter Berliner Unternehmerfamilien, zur Sommerfrische in den Alpen – bevorzugt den Tiroler Tälern. Die Filmvorlage erschien 1991 zur Nachbereitung und zur Erbauung von Fernsehscheuen im Haymon-Verlag auch als Buch. 1993 wurde ein besonders delikater und maliziöser vierter Teil der Piefke-Saga mit Drehort Alpbach nachgereicht.

Zuvor war Mayrhofen im Zillertal als ‚Lahnenberg’ telegen geworden. Einem großen Publikum rückte ins Bewusstsein, wie grundverschieden und zu Missverständnissen prädisponiert die mehr oder minder charakteristischen Vertreter der jeweiligen Volksgruppen sind. Wie das Genre es nahelegt, führten Mitterer und die Regisseure „Eigenheiten“ der mit ihrer damals noch harten bundesdeutschen Währung zahlenden arroganten und großkotzigen Gäste vor – und ebenfalls wenig schmeichelhaft, mitunter herzhaft peinlich die Einheimischen. Die Abgründe sprachlicher und erotischer Unvereinbarkeit wurden mit heiterem Sarkasmus ausgeleuchtet. Da war Musik verschiedener Schattierungen drin. Den Anfang nahm die um die Berliner Unternehmerfamilie Sattmann sich rankende Saga mit einem Rekurs auf eine in Wien aufgezeichnete Folge der Fernsehshow Auf Los geht’s los von 1982. In der warf Joachim Fuchsberger die Frage auf, wie viele der neun aus dem Publikum ausgewählten repräsentativen Personen „die Deutschen prinzipiell Piefke“ nennen. Es ergab sich eine satte Zweidrittelmehrheit.

Warum ausgerechnet Piefke?

Dass sich dieser Kosename zuerst für „die Preußen“, dann in großzügiger Weiterung für „die Deutschen“ einbürgerte, geht wohl auf die Wunden zurück, die dem österreichischen Selbstbewusstsein die Schlacht von Königgrätz (heute: Hradec Králové) schlug. Mit ihr ging der Krieg Preußens gegen Österreich-Ungarn und die Truppen des Deutschen Bundes am 3.7.1866 verloren. Nach der verlustreichen Bataille rund hundert Kilometer östlich von Prag stieß mit den siegreichen preußischen Truppen auch der baumlange Militärkapellmeister Johann Gottfried Piefke (1815–1884) auf Wien vor. Beim Einzug in die Stadt marschierte er, wie sein ebenfalls besonders hochgewachsener und als Militärmusiker tätiger Bruder Rudolf (1835–1900), an der Spitze der Musikkorps. Die für das Tschingderassabumm empfänglichen WienerInnen am Straßenrand sollen gerufen haben „Die Piefkes kommen!“ Von daher, so die nicht ganz zuverlässige Überlieferung, rühre die zeitbeständige Bezeichnung für die Preußen und Deutschen in toto her.

Wohl waren die beiden Piefkes auch bei der Siegesparade im Einsatz. Die wurde auf Geheiß des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck aus Rücksicht auf zukünftige Bündnisse rund zwanzig Kilometer vor den Toren Wiens bei Gänserndorf anberaumt. Dort steht seit 2009 ein touristisch wertvolles Denkmal („Klangskulptur aus Cortenstahl“). 1866 wurde den Habsburgern die Demütigung eines musikalisch deftig angeheizten Triumphzugs in ihrer Hauptstadt erspart. J.G. Piefke triumphierte beim Open-Air-Event auf dem Marchfeld mit einem funkelnagelneuen Königgrätzer Marsch.

Zum Zeitpunkt von dessen Entstehung war dieser Piefke bereits ein – vornan von Theodor Fontane – gefeierter Kriegsheld (die Würdigung der kompositorischen Qualitäten spielt in den zeitgenössischen Quellen eine höchst untergeordnete Rolle). Im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864, den Österreich-Ungarn und Preußen noch als Verbündete bestritten, befehligte er beim Sturm auf die Düppeler Schanzen an vorderster Front ein rund 300 Mann starkes Musikkorps. Mit gezogenem Degen, an den er die preußische Fahne geheftet hatte, soll er für den Yorkschen Marsch von Ludwig van Beethoven die Signale gegeben haben.

Angeblich auf autobiographische Aufzeichnungen Piefkes geht ein Bericht zurück, den die Frankfurter Oder-Zeitung am 22.4.1914 druckte – in einem Klima, das den großen Krieg vorbereitete: „Als die Chöre [damals eine übliche Bezeichnung für Musik-Korps oder Heeres-Orchester; Anm. d. Verf.] in der Parallele geordnet waren, bestieg ich die Brustwehr und wartete des Augenblicks, wo die Sturmkolonnen würden hervorbrechen. Sofort als dies geschah, gab ich mit meinem, mit der preußischen Flagge geschmückten Degen in der Hand, das Zeichen zum Sturmmarsch und fiel, als nach höchstens 5 bis 6 Minuten auf Schanze 3 meines allergnädigsten Königs und Herrn Fahne in frischer Morgenluft prangte und das Preußische ‚Hurra’ jubelnd herübertönte, mit einem dreimaligen Tusch ein, welchem unmittelbar ‚Heil Dir im Siegerkranz’ folgte.“ Das Dirigat von Düppel trug Piefke im März 1865 den eigens für ihn geschaffene Titel Director der gesamten Musikchöre des III. Armeekorps ein, mit dem der Preußenkönig Wilhelm I. ihn erhöhte, sowie die Goldene Verdienstmedaille des Kaisers Franz Joseph.

Das Feuilleton hat, mehr als die ebenfalls akribisch nachrecherchierende Wissenschaft, den Militärmusikzuchtmeister P. bereits herauf- und hinunterdekliniert. Er ist in Zeiten, in denen die preußischen Sekundärtugenden nicht mehr hoch im Kurs, sondern eher unter permanentem Anfangsverdacht stehen, ein gefundenes Kanonenfutter. Naheliegend war die Frage, „ob die Bedeutung der Musik bei der Schlacht von Düppel überhaupt eine so große Rolle gespielt hat, wie spätere ‚Heldengeschichten’ Glauben machen wollen“ (Flensburger Tageblatt vom 13.4.2014). Der Name Piefke, „dessen slawischer Ursprung piwek oder piwko auch ‚Säufer’ bedeuten kann, wanderte erst von Schlesien nach Berlin, nachdem Friedrich der Große die Provinz den Habsburgern abgejagt hatte. Heute, meint Namensforscher Godeysen, sei der ‚Piefke’ nach wie vor die ‚heimliche Rache der Österreicher für Königgrätz’. Heimlich, weil oft viele Deutsche gar nicht wüssten, wie sie hinter ihrem Rücken abqualifiziert würden. Königgrätz, weil erst im Anschluss an das k. k. Debakel diese einst populäre Witzfigur mit einem ganzen Arsenal negativer Vorurteile aufgeladen wurde“, resümierte Joachim Riedl in „Zeit online“ (22.8.2007). Womöglich geht die Genese der Denkfigur Piefke auf die Zeit lange vor Königgrätz zurück. Bereits im biedermeierlichen Wien, meint Riedl, „trat Piefke gerne mit seinem Alter Ego Pufke in Aktion. Die beiden waren so populär, dass Johann Strauß Vater dem Meckerduo sogar eine Polka widmete“. Riedl verwies beiläufig auch auf die Lernfähigkeit des Heldenmusikers von Düppel: „Statt der in Berlin gebräuchlichen Tenorhörner und Kornetts führte er zur militaristischen Beschallung Flügelhörner und Euphonien ein, die uniformierte Kapellen im Habsburgerreich auszeichneten.“ Denn „Weichheit und Fülle des Tons“, so argumentiert er in Berufung auf eine weiters nicht belegte Berliner Dissertation von 1936, „machten die Flügelhörner den rohen Kornetts überlegen.“

Der große Augenblick in Johann Gottlieb Piefkes Künstlerbiographie war zweifellos die Schlacht bei Düppel – ihn verstand er für so nachhaltig wirksame Werke wie Düppeler Schanzen-Sturmmarsch (heute: Düppeler Schanzen-Marsch) und den Düppeler Sturmmarsch zu nutzen. Ein früher Hinweis, dass ein Düppelmarsch vor Ort – wenn auch nach dem Gefecht – erklang, findet sich in Signale für die Musikalische Welt (28.4.1864): „Bei dem Siegesfest am Montag im Kroll’schen Locale kam auch zum ersten Mal der ‚Düppel-Marsch’ vom Musikdirektor des Leibregiments Piefke hier zur Aufführung.“ Es fehlte diesem Militärtonkünstler weder an Selbstbewusstsein noch an Vermarktungsgeschick: Ein halbes Jahr nach der Schlacht gegen die Dänen las man in der preußischen Hauptstadt: „Man passire irgend eine Straße in Berlin, wo das Volksleben heimisch ist – was hört man singen? Den Düppeler Schanzen-Marsch; was hört man da pfeifen? Den Düppeler Schanzen-Marsch; was hört man dort trillern? Den Düppeler Schanzen-Marsch. Überall Düppel und wiederum Düppel. Es giebt nicht einen Menschen in Berlin, sei er noch so hoch, sei er noch so niedrig, der die Klänge des Marsches nicht inne hätte.“ (Neue Berliner Musikzeitung, 12.10.1864)

Den nachhaltigsten Ruhm trug Gottfried Piefke freilich durch den Kriegsberichterstatter Fontane davon. Der huldigte ihm in seinem Buch Der Schleswig-Holsteinische Krieg im Jahre 1864 und widmete ihm – zusammen mit einem heute restlos vergessenen Selbstmordattentäter – ein wuchtiges Gedicht (publiziert einen Monat nach der Schlacht in der Berliner Kreuz-Zeitung):

 

Der Tag von Düppel

Still! Vom achtzehnten April

Ein Lied ich singen will.

Vom achtzehnten – alle Wetter ja,

Das gab mal wieder ein Gloria!

Ein »achtzehnter« war es, voll und ganz,

Wie bei Fehrbellin und Belle-Alliance,

April oder Juni ist all einerlei,

Ein Sieg fällt immer in Monat Mai.

 

Um vier Uhr morgens der Donner begann!

In den Gräben standen sechstausend Mann,

Und über sie hin sechs Stunden lang

Nahmen die Kugeln ihren Gang.

Da war es zehn Uhr. Nun alles still,

Durch die Reihen ging es: »Wie Gott will!«

Und vorgebeugt zu Sturm und Stoß

Brach das preußische Wetter los.

 

Sechs Kolonnen. Ist das ein Tritt!

Der Sturmmarsch flügelt ihren Schritt;

Der Sturmmarsch, – ja tief in den Trancheen

(Anm.: dies sind Erdarbeiten, durch die sich Soldaten einer angreifenden Armee mit [bedingter] Deckung einer belagerten Festung oder Stellung nähern können)

Dreihundert Spielleut’ im Schlamme stehn.

Eine Kugel schlägt ein, der Schlamm spritzt um,

Alle dreihundert werden stumm –

»Vorwärts!« donnert der Dirigent,

Kapellmeister Piefke vom Leibregiment.

 

Und »vorwärts« spielt die Musika,

Und »vorwärts« klingt der Preußen Hurra;

Sie fliegen über die Ebene hin,

Wer sich besänne, hätt’s nicht Gewinn;

Sie springen, sie klettern, ihr Schritt wird Lauf –

Feldwebel Probst, er ist hinauf!

 

Er steht, der erst’ auf dem Schanzenrück,

Eine Kugel bricht ihm den Arm in Stück:

Er nimmt die Fahn’ in die linke Hand

Und stößt sie fest in Kies und Sand.

Da trifft’s ihn zum zweiten; er wankt, er fällt:

»Leb wohl, o Braut! leb wohl, o Welt!«

 

Rache! – Sie haben sich festgesetzt,

Der Däne wehrt sich bis zuletzt.

Das macht, hier ficht ein junger Leu,

Herr Leutnant Anker von Schanze zwei.

Da donnert’s: »Ergib dich, tapfres Blut,

Ich heiße Schneider, und damit gut!« –

Der preußische Schneider, meiner Treu,

Brach den dänischen Anker entzwei.

 

Und weiter, – die Schanze hinein, hinaus

Weht der Sturm mit Saus und Braus,

Die Stürmer von andern Schanzen her

Schließen sich an, immer mehr, immer mehr,

Sie fallen tot, sie fallen wund, –

Ein Häuflein steht am Alsen-Sund.

 

Palisaden starren die Stürmenden an,

Sie stutzen; wer ist der rechte Mann?

Da springt von achten einer vor:

»Ich heiße Klinke, ich öffne das Tor!« –

Und er reißt von der Schulter den Pulversack,

Schwamm drauf, als wär’s eine Pfeif’ Tabak.

Ein Blitz, ein Krach – der Weg ist frei –

Gott seiner Seele gnädig sei!

Solchen Klinken für und für

Öffnet Gott selber die Himmelstür.

 

Sieg donnert’s. Weinend die Sieger stehn.

Da steigt es herauf aus dem Schlamm der Trancheen,

Dreihundert sind es, dreihundert Mann,

Wer anders als Piefke führet sie an?

Sie spielen und blasen, das ist eine Lust,

Mit jubeln die nächsten aus voller Brust,

Und das ganze Heer, es stimmt mit ein,

Und darüber Lerchen und Sonnenschein.

 

Von Schanze eins bis Schanze sechs

Ist alles deine, Wilhelmus Rex;

Von Schanze eins bis Schanze zehn,

König Wilhelm, deine Banner wehn.

Grüß euch, ihr Schanzen am Alsener Sund,

Ihr machtet das Herz uns wieder gesund! –

Und durch die Lande, drauß und daheim,

Fliegt wieder hin ein süßer Reim:

»Die Preußen sind die alten noch,

Du Tag von Düppel lebe hoch!«

 

Gerade in heutiger Zeit ist dem gut informierten Leser bewusst, wiesehr die mediale Darstellung von militärischen Konflikten nicht nur die Akzeptanz in einer womöglich nicht sonderlich kriegerisch gestimmten Gesellschaft befördert, Opfer und Kollateralschäden als notwendige Übel vermittelt und letztlich in politischen Entscheidungsprozessen kriegsentscheidend sein kann – unabhängig vom Tatsachen- oder Wahrheitsgehalt.

 

Preußens Gloria

Piefke stand als Tonkünstler in solider deutscher Tradition und hat es weiter gebracht als seine Vorfahren. Er erblickte am 9.11.1815 in Schwerin an der Warthe das Licht der Welt – als Sohn des Organisten und Stadtmusikers Johann Piefke und dessen Frau Dorothea. Seinen Wehrdienst leistete er als Hoboist beim Leibgrenadier-Regiment Nr. 8 in Frankfurt (Oder) ab, studierte dann an der Hochschule für Musik in Berlin, wurde 1859 zum Königlichen Musikdirektor befördert, nahm an den bereits erwähnten Kriegen gegen Dänemark und Österreich teil. Während des deutsch-französischen Kriegs erkrankte er 1870 bei der Belagerung von Metz (war daher beim Sieg und den Feiern in Versailles 1871 nicht dabei). Der Rest der Lebenszeit – er starb am 25.1.1884 und wurde mit militärischen Ehren in Frankfurt (Oder) beerdigt – verlief recht zivil: Es war eine von zahlreichen Konzerte und Konzertreisen erfüllte Existenz. Durch sie erwuchs, trotz der Erfolge mit Preußens Gloria, dem Pochhammer-Marsch, dem Gitana– und dem Margarethen-Marsch, dem Kaiser-Wilhelm-Siegesmarsch sowie dem Alsenströmer, den wirkungsmächtigen Schöpfern der österreichischen Militärmusik keine dauerhafte große Konkurrenz. Wenigstens diesen Konflikt mit dem Piefke hat die Donaumonarchie für sich zu entscheiden gewusst.

Anmerkungen:

Ausschlaggebend für den Sieg der Preußen war, wie der Musikwissenschaftler und Militärhistoriker Boris von Haken freundlicherweise mitteilte, der Einsatz modernster Kanonen der Firma Krupp, die die Befestigung der Dänen zerstört haben. Fontane ignoriert diese Technologie und stellt vormoderne, romantische Elemente in den Vordergrund: Das Selbstopfer und die Macht der Musik.

Eine Kurzfassung dieses Essays findet sich in Musik und Gesellschaft, Bd. 2, S. 91–93.

 

Musik und Gesellschaft, Bd. 2, S. 531–533  2010 Essay (Carolin Stahrenberg)

Mutationen eines alten Gauls

Das Weiße Rößl in acht Jahrzehnten

Erstaunlich wetterresistent steht immer wieder das Glück vor der Tür. Das am 8. November 1930 uraufgeführte dreiaktige Singspiel Im weißen Rößl, die Frühform eines deutschen Musicals, erfuhr in seiner mehr als achtzigjährigen Aufführungsgeschichte zahlreiche Metamorphosen: Von der auf Masse und visuelle Überwältigung setzenden Revue bis zur klavierbegleiteten satirischen Kleinfassung reicht das Spektrum, vom Zupf-Ensemble übers große Orchester bis zur Jazz-Band die Bandbreite für die Arrangements der Schlager von Ralph Benatzky, Robert Gilbert, Bruno Granichstaedten, Robert Stolz und Hans Frankowski. Auch in Österreich ist das Rößl ein »Dauerbrenner« geworden – trotz des ursprünglichen Zuschnitts auf das Berliner Publikum. Bereits ein Jahr nach der Premiere im Großen Schauspielhaus holte es Hubert Marischka ans Wiener Stadttheater. Karl Farkas setzte es aufwendig in Szene. In der farbenfroh ausgestatteten und mit »Girls« choreographierten Show spielte er selbst den Schönen Sigismund. Das Textbuch – es basiert auf einem preußischen Lustspiel von Oskar Blumenthal und Gustav Kadelburg (1896) – wurde an einigen strategischen Punkten verändert, sodass der Kritiker der Neuen Freien Presse nach der Aufführung zufrieden vermerken konnte: »Im Ausland war ja das Weiße Rößl zum Teil ein Lacherfolg auf unsere Kosten. In der Wiener Fassung können wir selber mitlachen«. Marischka und Farkas hatten, so die Presse, das Stück in einen »gemütlichen österreichischen Rahmen« gesetzt und es ganz »aus der parodistisch-ironischen Berliner Tonart Erik Charells ins Realistisch-Liebenswürdige transponiert«. Dem Publikum gefiel’s und das Rößl konnte mit über 700 Vorstellungen auch in Wien eine Erfolgsserie verbuchen. Zeitgleich mit der Stadttheater-Produktion lief nicht nur im Simpl eine klein besetzte Parodie Im schwarzen Rößl, sondern an anderen Varieté-Theatern auch das braune und das schwarz-weiße Rößl. Die Theater Salzburg und Innsbruck spielten das Singspiel ebenfalls, in Altaussee und Gastein gab es »Dilettanten-Vorstellungen«. Durch Vorarlberg tourte 1932 eine Produktion der Württembergischen Volksbühne, deren Mittel den Mehrzweck-Sälen angepasst werden mussten – die Tanzschar beschränkte sich hier auf vier Tänzerinnen. 1937 erreichte die Auberge du Cheval-Blanc Frankreich. Das Stück gelangte auch nach Großbritannien sowie in die USA. In Österreich wurde es nach dem »Anschluss« 1938 nicht mehr aufgeführt – als »jüdisch« und damit inakzeptabel galten u.a. der ursprüngliche Produzent Erik Charell (Erich Karl Löwenberg), der Librettist Hans Müller(-Einigen) sowie der für die Liedtexte und den Song Was kann der Sigismund dafür verantwortliche Robert Gilbert. Auch Farkas aus dem Wiener Produktionsteam musste emigrieren.

Nach Kriegsende war das Rößl eines der ersten Stücke, das wieder gespielt wurde. Ende November 1945 brachte die Wiener Operettenbühne in Hainburg Im weißen Rößl zur Aufführung. In Salzburg lief es ab 1947 in vier Spielzeiten und auch Graz spielte das Stück 1948. Mit den veränderten Rahmenbedingungen des Drei-Sparten-Theaters und einem sich wandelnden Publikumsgeschmack änderte sich auch das Rößl. In Zürich 1946 setzte man beispielsweise »einen deutlichen österreichischen Akzent unter Verdrängung aller nordischen Pointen«, so eine Kritik, »eine tunliche Distanzierung von allem, was an den Drillstil der Berliner Revuen der Dreißigerjahre« erinnern könnte – kein Wunder, dass das Stück in den folgenden Jahren unter dem (Wiener) Label der »Operette« firmierte. Man setzte nun auf individuelle Zeichnung der Tänzerinnen und Tänzer und die Herausarbeitung eines kontinuierlichen Handlungsfadens. 1952 wurde dann auch eine musikalische Umarbeitung präsentiert, in der das Rößl die nächsten Jahrzehnte über die Bühne ging.

Die »Rekonstruktionsfassung« von 2010 versprach, das Rößl im klanglichen Ursprungsgewand von 1930 zu präsentieren. Sie weckte damit neues Interesse an dem Stück: Es gab große Produktionen in Graz/Wien, Salzburg und Klagenfurt. In Innsbruck setzte man im freien »Staatstheater« auf die klein besetzte Fassung, die 1994 in Berlin für die Bar jeder Vernunft entstanden war. Die Anknüpfung an die Theaterformen Revue, »Revueoperette« und Kabarett wurde bei all diesen Neuproduktionen großgeschrieben.

Behauptete die Neue Freie Presse 1931 noch (seltsamerweise), das Stück kehre jetzt »in die Heimat zurück« (und meinte damit Österreich), so besinnt man sich heute auf den norddeutschen (Vorkriegs-)Kontext und zeigt das Rößl bewusst »als ein Stück von Berlinern ›über euch‹«, wie es Andreas Gergen, der Regisseur einer neuen Salzburger Inszenierung, ausdrückte. Das Publikum zeigte die Souveränität, auch über Scherze »auf eigene Kosten« mitzulachen. Im Zentrum des Witzes stehen im Rößl ja Bürger Berlins und St. Wolfgangs gleichermaßen, lechts und rinks nationaler und mentaler Grenzen. Ohnedies ist davon auszugehen, dass das sommerliche Glück noch so manches Jahr vor der Tür steht. So oder so.

Carolin Stahrenberg

Verwendete und weiterführende Literatur:

– Ulrich Tadday (Hg.), Im weißen Rössl. Zwischen Kunst und Kommerz, Musik-Konzepte Bd. 133/134, München 2006.

– Carolin Stahrenberg, »›Der unverwüstliche Gaul‹ kehrt in die Heimat zurück«, in: Österreichische Musikzeitschrift ÖMZ 3 (2016), S. 22–24.

Quelle: Frieder Reininghaus, Judith Kemp, Alexandra Ziane (Hg.): Musik und Gesellschaft. Marktplätze. Kampfzonen. Elysium, Königshausen & Neumann, Würzburg 2020, Bd. 2, S. 531–533.