Aix-en-Provence 2022

Reproduktion der Reproduktion

Preisträgerkonzert des Aeolus-Bläserwettbewerbs, 11.9.2022, Tonhalle Düsseldorf

Der Nachwuchs kann sich hören lassen. Mehr noch: In der Düsseldorfer Tonhalle bescherten die siegreichen Finalisten des 16. Internationalen Bläserwettbewerbs Aeolus einen auch musikalisch besonnten Sonntagmittag im September. Besonderen Pfiff hatte Vincent Davids Pulse, ein Solo von sieben Minuten Dauer. Der als bester Interpret zeitgenössischer Musik ausgezeichnete Roman Markelov entlockte sie seinem Saxophon. Dies einzige Stück neueren Datums bot der stupenden Technik des in Moskau geborenen Kölner Studenten beste Demonstrationsmöglichkeiten für blitzschnelle Registerwechsel, sonore Tiefen, grelle Höhen. Schlagimpulse auf den Klappen strukturieren die exaltierte Melodie-Lineatur. Deren Notation knüpft an den Aufzeichnungskurven eines Apparats der Intensivmedizin an und steuert effektiv einem herzzerreißenden Höhepunkt zu.

Vor dieser kurzweiligen Zugabe absolvierte Salvatore Alessandro Miceli im Hauptprogramm Pierre-Philippe Bauzins Poème (1960). Der christlich fundierte inbrünstige Dialog ohne Worte zwischen Solist und Orchester bietet weit weniger Angriffspunkte zum Vorführen technischer Finessen als Pulse. Dies ist in der zugespitzten Wettbewerbssituation ein Handicap, das der aus Sizilien stammende Saxophonist trotz makelloser Leistung nicht kompensieren konnte. Von der Jury wie durch das Plebiszit wurde sie auf Platz 3 verwiesen.

Gerahmt wurde das epigonale Poème von altbewährtem Mozart. Karsten Hoffmann, seit drei Jahren beim Sinfonieorchester Wuppertal, absolvierte das Horn-Konzert KV 595 makellos mit souveräner Gelassenheit und holte sich den 2. Preis. Der erste ging an Oliver Shermacher (Australien). Er nutzte das Klarinetten-Konzert mit Gefühl fürs Elegische, beeindruckender Fingerfertigkeit und lockerem Charme für eine sehenswerte Performance. Die Ungenauigkeiten der von Vitali Alekseenok aufgemunterten Düsseldorfer Symphoniker konnten ihn nicht beirren.

Gewiss sind Studierende froh, wenn sie sich bei einem gutdotierten Wettbewerb profilieren und ggf. einen Scheck mitnehmen können. Als wären sie die Meistermerker von Nürseldorf, saßen die älteren Herren der Jury beim Final-Konzert in einem vom übrigen Auditorium abgegrenzten Geviert. Sie waren zum selben Urteil gelangt wie das Publikum. Auf die Erfüllung von dessen eingefleischten Erwartungen ist die Veranstaltung ausgerichtet. Im Prinzip ist sie edel, hilfreich und gut für die Reproduktion von „Klassik“-Nachwuchs.

Eine Redakteurin des Deutschlandfunks fungiert bei Aeolus seit 16 Jahren als moderierende Glücksfee. Eigentlich hätte sie sich von Berufs wegen unabhängig journalistisch um Aktuelle Kultur zu kümmern. Warum die Rundfunkgebührenzahler das als steuerbegünstigte Stiftung aufgesattelte Steckenpferd des sehr gewinnend auftretenden Bankiers und Enthusiasten Sieghardt Rometsch mitfinanzieren müssen, bleibt erklärungsbedürftig. Was veranlasst den DLF, ausgerechnet einem langjährigen Repräsentanten einer schlecht beleumundeten Investmentbank dauerhaft als „Kulturpartner“ zu dienen und seine musikpolitische Aktivitäten nicht demokratisch-pluralistischer auszurichten? Auch beim Deutschlandfunk sind Glasnost, Perestroika und Frischluft angesagt.

Er hat sich nicht geschont

Zum Tod des Dirigenten und Intendanten Stefan Soltesz

Das letzte mal gesprochen habe ich mit Stefan Soltesz Ende Juni an einem Tischchen auf dem Trottoir vorm Restaurant Rosati in der Berliner Bismarckstraße. Man konnte sich an jenem Sonntagnachmittag in der Deutschen Oper von den Qualitäten bzw. dem Misslingen der „Meistersinger“-Aufarbeitung von Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito überzeugen. Nach den gut sechs Stunden Verweildauer im Betonklotz auf der anderen Seite des Boulevards waren angesichts der hochsommerlichen Außentemperatur kühle Getränke angesagt.

Soltesz saß schon und hatte den schlimmsten Durst gestillt. „Ich wohne ja, wenn ich in Berlin bin, hier direkt um die Ecke“ – und schon berichtete er, vital und bestens gelaunt, was er in nächster Zeit alles dirigieren werde. Vornan „Die schweigsame Frau“ von Stefan Zweig und Richard Strauss. Die ging ihm hörbar im Kopf herum und er scherzte über den letzten Satz des Sir Morosus: „Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist!“. Es ergab sich ein längerer Gesprächsabschnitt zu seinem Faible gerade auch für die seltener gespielten Bühnenwerke des Garmischer Meisters. Wir waren uns nicht ganz einig hinsichtlich der immer noch bemerkenswerten, aber eben für die Nachwelt nicht ganz unproblematischen Routine der Bühnenarbeiten aus den 1930er und 40er Jahren samt deren toxischen Nebenwirkungen.

Kurz unterhielten wir uns auch noch einmal über die „Ägyptische Helena“. Nach der Uraufführung 1928 war ihr weiters der Erfolg versagt geblieben. Offensichtlich wirkte das Werk bereits auf die Augen und Ohren der Zeitgenossen anachronistisch. Dennoch riskierte Soltesz vor zwanzig Jahren die Reaktivierung. Der Bühnenbildner und Regisseur Gottfried Pilz sorgte für die szenische Realisierung.

Wir erinnerten uns an die Probleme, die Hugo von Hofmannsthals Verquirlung von Seitensträngen der Sagen vom Aufstieg und Fall der Stadt Troja und Goethes „Faust II“ mit einem modernen Ehe-Drama damals der Produktion konzeptionell beschert hatten. Auch, wie die Befürchtungen, dass sich Werke wie dieses am Ende noch nicht erfolgreich würden reanimieren lassen, damals zerstoben, indem Helen Donath als Aithra das zerstrittene Paar aus Mythologien, die mit Heroinen-Stimme zuschlagende Luana DeVol und den wendigen Tenor Hendrik Vonk, zusammenzaubern konnte. Mit zäher Energie und glücklicher Dirigentenhand hatte Soltesz seinem Essener Strauss-Zyklus 2003 eine weitere Spitzenleistung hinzugefügt. Überhaupt imponierte er kontinuierlich mit intensiver Spannkraft und dem sichtbaren Willen, Orchester und Stimmen für hohe Ziele rigoros zu fordern.

Braunschweig und Antwerpen

Man konnte ihn gelegentlich im Zug von West-Berlin Richtung Helmstedt und weiter in die westliche Bundesrepublik sehen. Braunschweig liegt an der Strecke. Dort war Soltesz ab 1988 als Generalmusikdirektor engagiert, als noch die D-Züge mit den Sechser-Abteilen verkehrten. Er benötigte vorzugsweise zwei oder drei Sitzplätze für die aufgeschlagenen Partituren, die er durcharbeitete. Er verließ das Staatstheater im östlichen Niedersachsen, als die von ihm betriebene Anhebung des Orchesters in den A-Status (und damit die Zahl der Planstellen) von Gerhard Schröders Landesregierung in Hannover erst einmal abschlägig beschieden wurde. Als er es ernst meinte mit seinem Abgang, wurde die Aufbesserung dann doch bewilligt.

In einem belgischen Waggon auf dem Weg zu einer Premiere der Flämischen Oper in Antwerpen, wo Soltesz von 1992 bis 1997 als Chefdirigent unter Vertrag stand, kamen wir übers Partitur-Studium ins Gespräch. Er hatte in erster Linie so präzise wie möglich zu memorieren, wie das Stück gebaut ist – Kritiker und Wissenschaftler sind ggf. auch mit der übers Handwerkliche hinausreichenden Frage konfrontiert, „was es ist“. Diesem Ansinnen freilich stellt sich in günstigen Fällen auch der Dirigent und nicht nur im Vorfeld einer Produktion.

Die Methode, mit der Soltesz in Antwerpen und Gent beispielsweise das Triebleben der „Toten Stadt“ von Erich Wolfgang Korngold aufheizte, blieb gewöhnungsbedürftig. Musikalische Langeweile freilich war das letzte, was den von Soltesz befehligten Abenden vorzuwerfen blieb. Und das Orchester profitierte vom Arbeitsstil und -ethos des Chefs.

Große Machtfülle, weiter Gestaltungsraum

In Essen war Soltesz von 1997 bis 2013 Generalmusikdirektor der Philharmoniker und Intendant des Aalto-Musiktheaters. Er startete mit Beethovens und Hilsdorfs „Fidelio“. Der Amtsvorgänger Wolf-Dieter Haunschild hatte das Konzept als „zu provokant“ abgelehnt. Denn Dietrich Hilsdorf machte der Betulichkeit des Textes durch radikale Kürzungen der Dialoge und Hinzufügung kess kommentierender Obertitel den Garaus. Soltesz behandelte Beethovens Musiktheaterschmerzenskind pfleglich, trug der Heterogenität der musikalischen Momente vollauf Rechnung. In hohem Maß ließ er sich von den Ansprüchen des Gesamtkunstwerks Oper leiten und hatte nicht nur sein Metier im Blick. Das Aushandeln von Verträgen war ihm nach eigenem Bekunden eher Lust als Last – und das Einhalten von Etatplänen hielt er für selbstverständlich. „Das war mir nie lästig. Ich bin gern Manager“, sagte er einmal.

Im November 1999 setzte er in Essen mit dem „Regie-Berserker“ Hilsdorf auch dessen Verdi-Zyklus fort. Der Regisseur versuchte, die von der Zensur und von problematischen Umarbeitungen verdorbene (und daher immer wieder zur Parodie reizende) Handlung des Maskenballs dadurch zu „retten“, dass er sie an einen Märztag des Jahres 1858 und nach Neapel verlegte: ein König Riccardo, so lebens- und liebeshungrig wie unterschwellig todessüchtig, inszenierte da sich und seinen rauschenden Lebensstil. Hilsdorf entfachte ein bitterböses Beziehungsfeuer, wiederum sekundiert von launig formulierten Obertiteln: Hinter der Harmonie lauerte der Terror.

Auch bei der durch Salvatore Cammerano politisch entschärften „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller retuschierte Hilsdorf erheblich. Er reicherte Verdis Musikdrama mit Stichworten Georg Büchners an. In drastischen Bildern predigte er „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“, streute die militantesten Liebesgrüße des „Hessischen Landboten“ ein. Aber die Titelheldin Luisa Miller, so will es das Stück, muss schließlich doch dem Quartett verkommener Männergestalten unterliegen – einem abgrundbösen Grafen Walter und dem verhaltensgestörten Faktotum Wurm, dem egoistischen Vater, diesem daueralkoholisierten Querulanten, und einem lauttönenden Tenor-Liebhaber, der doch nur ein jämmerlicher Versager ist.

Die brutale Deutlichkeit und Eindeutigkeit der Sichtweisen Hilsdorfs prägte das Repertoire des Aalto-Theaters am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie setzte im Verbund mit dem musikalischen Qualitätsanspruch und den mitunter eigenwilligen Interpretationen von Soltesz emphatische Signale in der Ruhr-Region.

Freilich nicht im Alleingang. Peter Konwitschny inszenierte „Daphne“ von Richard Strauss, bei der es zentral um das erotisch-sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau geht. Der DDR-gestählte Regisseur überformte den Schluss der Oper mit wiederkeh­renden Projektionen von BDM-Fräuleins, Hitler-Jungs, Mas­senaufmärschen und dem kahlen Kopf des alten Strauss. Damit sollte auf die „objektive“ Funktion verwiesen werden, die dieses Stück zum Zeitpunkt der Entstehung erfüllte. Unterstellt wurde ein subkutan pronazistischer Kontext des Werks. Das setzte auch den dirigierenden Intendanten, einen eifrigen Protagonisten des großen Richard Strauss, kontroversen Diskussionen aus.

Der hielt im 1988 eingeweihten Theaterneubau an der Rolandstraße energisch und mitunter wohl auch etwas feldherrlich die Fäden sowie bemerkenswert oft auch den Taktstock in der Hand – stets recht gebieterisch, doch eben auch umsichtig. Die verlässliche Kontinuität, mit der er das Haus programmierte und disponierte, bescherte diesem eine gute Auslastungsquote. Der im Zusammenwirken mit Hilsdorf gewachsene Verdi-Zyklus, die Vitalisierungen von Opern und szenisch aufbereiteten Oratorien Georg Friedrich Händels und die Wagner-Produktionen prägten das Programm des Essener Hauses.

Vor allem auch markante, wuchtige und illustre Strauss-Anstrengungen u.a. mit Konwitschny und Pilz, Nicolaus Brieger und Tilman Knabe. Die als Revue über Geld und Liebe dahertänzelnde „Lustige Witwe“ durfte so wenig fehlen wie der von Stefan Herheim brillant interpretierte „Don Giovanni“: eine österreichisch-ungarische Fundierung prägte den Grundton und das Aroma. Auch Aktuellem half Soltesz zum Durchbruch: Mit der Uraufführung der „Arabischen Nacht“ von Roland Schimmelpfennig und Christian Jost brachte er eine der interessanteren Arbeiten des neuen Musiktheaters zur Uraufführung. Als einziges Opernunternehmen weit und breit konnte das Aalto-Theater eine Zeitlang mit den großen Staatsbetrieben der benachbarten Königreiche in Brüssel und Amsterdam auf gleicher Augen- und Ohrenhöhe mithalten.

Unterwegs

Geboren wurde Stefan Soltesz 1949 in Nyíregyháza im Grenzland von Ungarn, Rumänien, der Ukraine und der Slowakei. Als Siebenjähriger kam er nach Wien – wie so viele Ungarn, die im Kontext der politisch-militärischen Spezialoperation der Sowjetunion gegen ihr nur noch unwillig gulaschkommunistisches Heimatland 1956 nach Westen emigrierten. Stefan wurde Sängerknabe und Österreicher. Die Ausbildung setzte sich an der Wiener Hochschule für Musik und darstellende Kunst fort. Soltesz studierte Klavier, Komposition und insbesondere Dirigieren bei Hans Swarowsky. Erfahrungen sammelte er auch als Assistent so unterschiedlicher Dirigententypen wie Karl Böhm, Christoph von Dohnányi und Herbert von Karajan.

Die Kapellmeisterkarriere begann 1971 im Theater an der Wien – Soltesz war gerade 22 Jahre alt geworden. Über Berlin, Hamburg, Paris und London setzte sie sich fort. Sie führte nach Catania, Bilbao, Buenos Aires, Washington, San Francisco und Japan. Die festen Leitungspositionen in Niedersachen, Antwerpen/Gent und insbesondere im Ruhrgebiet erweiterte den individuellen Gestaltungsradius. Orchesterschulung über einen längeren Zeitraum war Soltesz ebenso ein Anliegen wie die Anteilnahme an der Entwicklung von Sänger*innen.

Mit den Jahren reiften die Interpretationen. Das Gespür für Zwischentöne und Finessen wuchs ebenso wie das Bewußtsein, wie notwendig jeweils das Bemühen um stringente Werkgestalt ist. Zusammen mit Hilsdorf brachte Soltesz 2011 eine Version von „Hoffmanns Erzählungen“ heraus, die den ursprünglichen Intentionen Offenbachs wohl so nahe kam wie bislang wenige. Damit wurde beiläufig eine 130jährige Bearbeitungsgeschichte kritisch kommentiert. Dies Ringen um die Balance zwischen Verantwortung gegenüber dem historisch relativierten Notentext und der für alle Interpretation gebotenen Frische bildete auch die produktive Voraussetzung für orchestrale Großwerke wie Gustav Mahlers Dritte. Soltesz dirigierte die so manche Naturschönheit, mythische Fernen und hautnahe Gefühle anrufende Symphonie Anfang 2012 an der alten Wirkungsstätte in Braunschweig. Im Rahmen dieses von Altsolo, Knabenchor und Frauenchor überwölbten Konzerts wurde er zum Ehrendirigenten des Staatsorchesters ernannt.

Die letzte große Produktion der sechzehnjährigen Amtszeit in Essen war ein „Parsifal“, den der Choreograph Joachim Schloemer in eine der theatral längst über Gebühr in Anspruch genommenen Intensivstationen einhegte. Medizinische Extrembehandlung ist Stefan Soltesz im wirklichen Leben schließlich erspart geblieben. Nach einem knappen Jahrzehnt neuerlich intensiver und höchst erfolgreicher Reisetätigkeit ist er am 22. Juli 2022 in der Bayerischen Staatsoper München gegen Ende des ersten Akts der unter seiner Stabführung musizierten „Schweigsamen Frau“ zusammengebrochen und war tot. Er hat es ernst gemeint mit seinem Abgang.

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