Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 2

Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 2,  4.11.2022, 9.15 Uhr

 

Erinnerung an die Anfänge des kritischen Musikjournalismus im deutschsprachigen Raum

Johann Mattheson (1681–1764) veröffentlichte 1739 seinen Vollkommenen Kapellmeister. Aus diesem systematischen Abriss der Musik in Geschichte und Gegenwart rührt der Gedanke her, dass alle Musik – die gesun­gene wie die instrumental ausgeführte – „Klangrede“ zu sein habe. Mattheson war umfassend gebildet. Er beherrschte mehrere Sprachen und hatte juristische Vorlesungen belegt. Die fachkundigen Zeitgenossen hielten ihn für einen recht bedeutenden Librettisten und Komponisten, der selbst auch für die Aufführung seiner Werke sorgte. Hörprobleme, die 1740 zur völligen Taubheit führten, hinderten ihn an der Fortsetzung der praktisch-musika­lischen Karriere. Mattheson wechselte in den diplomatischen Dienst (bei ihm scheint Kurzsichtigkeit und Harthörigkeit ggf. kein Problem). Man rühmte ihn als „hamburgischen Polyhistor“ – und jedenfalls erwies er sich als der erste für den ganzen deutschen Sprachraum bedeutende Journalist. Er war der erste, der europaweit ein Korrespondentennetz unterhielt (also für seine Zeit außerordentlich gut informiert).

Bedeutsam für die Entwicklung des Publikationswesens in Deutsch­land war, dass Mattheson von 1725 an nicht nur mit der Critica Musica eine Kul­turzeitschrift herausgab, sondern fast gleichzei­tig nach französischem Vorbild ein allgemeines journalisti­sches Pro­dukt: den Vernünftler (das Blatt hieß tatsächlich so!). Matthe­son war einer, der Musik und Musikbetrieb, überhaupt dem Kulturle­ben mit Wortgewalt Vernunft beibrachte. Das ist, auch von heute aus gesehen, eine beachtliche Menge.

Dieser vielseitige Mann war einerseits so etwas wie ein Echolot des Betriebs – aber zugleich ein souveräner Kritiker, Ästhetiker und Polemiker.

Was man bis heute von Mattheson lernen kann, ist der systematische Aufbau der Texte – er basiert auf der Kombination von Sammeln, Ordnen, Beschreiben, kritischem Anmerken und dem Artikulieren des Wünschenswerten.

Im Vollkommenen Kapellmeister heißt es in §63 des zehnten „Haupt-Stücks“: „Weil nun die Instrumen­tal-Music nicht[e]s anders ist, als eine Ton-Sprache oder Klang-Rede, so muß sie ihre eigentliche Absicht allemahl auf eine ge­wisse Gemüths-Bewegung richten“ (hier findet sich die Quelle für das Stichwort, das der Dirigent Nikolaus Harnoncourt im späten 20. Jahrhundert dem zunehmend an älterer Musik interessierten Musikbetrieb nachhaltig in Erinnerung rief).

Matthesons Beziehung zu den il­lustren Musik-Meistern seiner Zeit waren freilich nicht frei von Rivalität und Span­nungen. Vom legendären har­schen Streit mit Händel wird aus dem Jahr 1704 berichtet (dieser soll aber bereits zu Weihnachten wieder beigelegt worden sein; vgl. MGG1, Bd.8, Sp.1799). Georg Philipp Telemann ärgerte sich verschiedentlich kräftig über Matthesons „stachelichte Feder, die weder Freund noch Feind zu schonen <sonst> gewohnt gewesen“ (Telemann, Briefwechsel; Leipzig 1972, S. 250).

Mattheson scheint es an Selbstbewusstsein nicht gemangelt zu haben. Er war der erste der so gründlich verachteten Musikkritiker und besaß auch schon einige ihrer heutigen Laster: die „Promi-Geil­heit“ z.B. und den Hang zu selbstgefälligen Formulierungen. Freilich war er es, der dem Metier des sachkundi­gen Schreibens über Musik und Musiker die Türen der Feuilletons öffnete und der modernen Musikforschung das Tor der wissenschaftlichen Eh­ren. – Als Komponist neigte Mattheson selbst, wie der englische Reisende Bur­ney bereits bemerkte, zu „Pedanterie“.

Der Vollkommene Kapellmeister (VK; Hamburg 1736) verstand sich als Handbuch für das Betreiben einer erfolgreichen Kapelle und überhaupt für alle Belange der Musik (Joseph Haydn studierte ihn noch und selbst der sich auch auf musikalischem Gebiet qualifizierende Dichter Goethe).

§ 1 vergleicht das enzyklopädisch angelegte Buch mit einer Land- oder Seekarte und definiert dialektisch – Hauptstück 2, § 15, „Musica ist eine Wissenschaft und Kunst“.

Kompromisshaft verbindet der VK also die mittelalterliche Ge­lehrsamkeit mit gewandeltem Bewußtsein von der musikali­schen Praxis. Der VK weitet das Erkenntnisinteresse aus auf die „Natur-Lehre des Klanges“ aus und periodisiert (IV, 19ff., nach dem Vorbild von Christoph Rau­pach) die Musikgeschichte vom Jahr 2.300 v. Chr. an.

Mattheson beschrieb die Funktion der Musik in verschiedenen historisch und geographisch unterschiedenen Gemeinwesen, in­sbesondere den „Nutzen der Music in der Republik“, erläutert der „Gebärden“, die Stile der unterschiedlichen Musikrichtungen und Gattungen, die Intervallverhältnisse, Tonarten, Notati­onsweisen, Melodiebildung, den zwo-, drei-, vier- und fünf­stimmigen Satz, Fugen und doppelten Kontrapunkt; Instrumen­tenlehre – bis hin zur Frage der Schön­schrift und Leserlich­keit von Partituren und Stimmen. Von der „Pflege und Ausbil­dung der Stimme“ bis hin zur Definition der Auf­gaben eines „Musik-Vorstehers“ (Dirigenten, Kapellmeisters, Musikdirektors) und den Kriterien der „Erfindung“ oder denen des „zierlichen Singens und Spielens“.

Der vollkommene Kapellmeister, 4. Hauptstück (Kapitel IV):

„Von der eigentlichen musicalischen Gelehrsamkeit“

§ 1: Der Gegenstand – Musik in Geschichte und Gegenwart – sei so weitläufig, dass „ein eigener Lehr-Orden daraus zu machen wäre“ (dieses Stichwort gab den Anstoß für die Gründung der Musikwissenschaft, aus der später auch die Theaterwissenschaft und noch viel später die Tanzwissenschaft hervorging)

§ 2: Diagnose: gegenwärtig herrsche Tiefstand der Theorie

§ 3: Schon die Frage nach einer Theorie der Musik löse bei den Experten „ein tiefes und beschämtes Stillschweigen, bey den meisten aber wol gar ein hönisches und albernes Gelächter“ aus.

§ 6: Untersuchungsgegenstand sind „Erfindungen der zum musicalischen Wesen gehörenden Dinge, als die Begebenheiten, Schriften, Personen, Zeiten u.s.w.“ (sehr klare Aufgabenbestimmung! – übrigens auch nützlich für jede einzelne Kritik bis heute!)

§ 7: Drei Hauptuntersuchungsgebiete; das erste: „die Zeit-Rechnung“ (i.e. die Epocheneinteilung)

§ 8: Das zweite: „die Personen und ihren Lebenslauff“ (biographische Forschung bzw. Information);

§ 9: Das dritte Arbeitsfeld könnte und sollte „die Werckzeuge vornehmen, die zum Spielen erfordert werden“ (Werkzeuge im weitesten Sinn: –> Systematische Musikwissenschaft)

§ 10: und dies nicht nur im näheren Gesichtskreis des Theoretikers, sondern: „die musicalischen Kling-Zeuge verschiedener Völckerschaften“ (–> Musikethnologie)

§ 20–22: Mattheson teilt die Musikgeschichte in drei große Epochen ein: Von den Anfängen bis zum Ende des weströmischen Reichs bzw. Papst Gregor d.Gr., von diesem bis ziemlich genau 1600 („seconda prattica“) – „gantzer tausend Jahr“; die dritte Periode von 1600 bis zu seiner Gegenwart „… würde zwar die wenigsten Jahre begreifen; aber doch so viel Stoff zur Hand geben, daß die beiden ersten Periodi dabey nur geringe aussehen dürften“. (also: Fokussierung auf die jüngere Vergangenheit und aufs Aktuelle.

Zusammenfassend: Johann Mattheson war so etwas wie ein Echolot des Betriebs – aber eben, wie Friedrich Blume schrieb, „der bedeutendste Kritiker, Ästhetiker, Polemiker, ja Enzyklopädist der deutschen Musikgeschichte des 18. Jahr­hunderts“.

zu Kapitel V

Bemerkenswert, dass Musik nicht nur als wissenschaftlicher Gegen­stand, sondern durchaus als gesellschaftliche Größe, in politi­schen Zusammenhängen stehend begriffen wird (da war man an den Anfängen sehr viel weiter als später, wo all das eher ausgeklammert wurde). Also: Musik als Ferment und Indi­kator der gesellschaftlichen Prozesse.

Weiterführende Literatur:

Bahnbrechend für das Neue

Anfänge der Musikkritik in Deutschland

Musikkritik ist eine vergleichsweise späte Erscheinung. Sie entstand um 1700 im Zuge der Aufklärung. Protagonist im deutschsprachigen Raum war Johann Mattheson in Hamburg, ein Zeitgenosse und Dialogpartner u.a. von Händel und Telemann, zunächst Sänger, dann auch Librettist und Komponist. Angesichts von Gehörproblemen verlegte er sich aufs Schreiben über Musik, avancierte zum »hamburgischen Polyhistor« und wechselte in den diplomatischen Dienst. Als bedeutsam für die Entwicklung des Publikationswesens erwies sich, dass Mattheson mit vielerlei Briefwechseln ein europaweites »Korrespondentennetz« aufbaute, von 1725 an mit der Critica Musica die erste deutschsprachige Kulturzeitschrift herausgab und, fast gleichzeitig, nach englischem Vorbild und weitgehend auf den Londoner Blättern Tatler und The Spectator basierend das erste allgemeine journalistische Produkt: den Vernünftler.

Musikkritik erweist sich in ihren frühesten Beispielen als Medium des Kampfes um ästhetische Neuerungen. Neben einer Öffentlichkeit, an die sie sich richten kann, war sie grundsätzlich an neuartige Musik gebunden, der es die Bahn zu brechen galt. Im frühen 18. Jahrhundert war dies – wie in England – vor allem die Oper, die ihre künstlerischen Mittel konsequent in den Dienst des theatralen Affektausdrucks stellte. Musikkritik konstituierte und manifestierte auf diesem Wege nationalkulturelles Selbstverständnis. Es ist also kein Wunder, dass sie sich im höfischen Umfeld ebenso wenig entwickelte wie dort, wo nationale oder regionale Musikkultur nicht verteidigt werden mussten. Frankreich erlebte sie als öffentliches Phänomen erst im Zuge des Buffonistenstreits; Italien brachte im 18. Jahrhundert kaum musikkritische Publizistik hervor.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbanden sich dann ästhetische und soziologische Bestimmung des kritischen Publizierens über Musik. Es entstand das, was auch heute umstandslos als Musikkritik gelten kann. Johann Adam Hiller war mit den 1766 bis 1770 in Leipzig erscheinenden Wöchentlichen Nachrichten und Anmerkungen die Musik betreffend einer der ersten konsequenten Publizisten auf diesem Gebiet und Vorreiter bei der Bemühung um ein nationales Idiom. Etwa zeitgleich erschienen entsprechende Periodika in England und Frankreich.

Das öffentliche Urteil über musikalische Werke wurde ausgeweitet und verstetigt. Erst jetzt schien eingelöst, was Mattheson ein halbes Jahrhundert zuvor mit rhetorischer Verve und polemischem Druck erstmals und dann fast ein Leben lang immer wieder einforderte: Musik, jenes »wunderschöne und vollenkommene Geschöpffe / welches der gütige GOtt uns Menschen zur Lust / und gleichsam zum Vorbild der ewigen harmonischen Herrlichkeit gegeben«, ist ständiger Diskussionsgegenstand einer öffentlichen Gemeinschaft. Sie nimmt damit teil an einem Beurteilungs- und Aussonderungsprozess – an der Pflege des »musicalischen Garten[s]«, der Mattheson 1722 die Critica musica gewidmet sehen wollte.

Bereits 1713 hatte er die Musik zur höchststehenden Kunst erhoben und sich dazu einer theologisch fundierten Argumentation bedient. Musik existiert als »etwas unerschaffenes und ab æterno in æternum«. Gott hat sie dem Menschen »eo ipso eingeflösset und ertheilet«: »vor dem Fall als ein grosses Theil seines Glückes und seiner Seeligkeit / nach demselben aber als ein sonderliches Geschencke und ungemeines Labsahl«. Musik ist unendlich; auf Erden bereits erklingt ein Vorgeschmack ewiger himmlischer Harmonie. Originell verbindet Mattheson diesen theologischen mit einem dezidiert aufklärerischen Ansatz: »Music hat einen Göttlichen / himmlischen / gebenedeyeten Ursprung / und ist / so weit sie diese Welt angehet / in der selbstständigen Natur gegründet«. Für Mattheson als tiefgläubigen Protestanten wie als Weltmann ist Musik – weltliche wie geistliche – in letzter Instanz immer Gottesdienst. Dieser ist umso intensiver, je wirkungsvoller Musik zum Einsatz kommt. Wirkung aber wird um 1700 konsequent individualisiert, ihre Beurteilung der Kategorie des Geschmacks unterworfen. Matthesons radikale, ja wütende Abkehr von älteren Lehrgebäuden dient der Etablierung dieser Individualität der Wahrnehmung und des Urteils. Sie geht einher mit einem Evolutionsgedanken der Musik, wie er in zahlreichen Publikationen der Zeit aufscheint. Demnach erreicht Musik in der Jetztzeit einen historischen Gipfel, der von »neuen / lebendigen / künstlichen [und] galanten Subjectis« markiert wird. Deren Individualität muss über Regeln erhaben sein. Nur ein mündiges und mobilisiertes, ein im besten Sinne aufgeklärtes Publikum – Fachkollegen und Liebhaber gleichermaßen – kann hier bewertend mitreden. Matthesons rhetorische Anstrengungen, die Übertreibungen und polemischen Härten, mit denen einem »Verfall der Music« durch das »Feuer der Vernunfft« begegnet werden sollte, stehen immer im Dienste des göttlichen Wesens der Musik. Nur durch ständige Kritik schien Mattheson der gemeinschaftliche Dienst an diesem Gottesgeschöpf lebendig zu erhalten zu sein, ohne den ihm, ebenso wie vielen seiner Zeitgenossen und Nachfolger, eine lebenswerte Welt nicht denkbar war.

Hansjörg Drauschke

Literatur:

– Johann Mattheson, Das Neu-Eröffnete Orchestre, Hamburg 1713; hier insbesondere S. 1 u. 302–204.

– Johann Mattheson, Critica musica, »Vortrab«, Hamburg 1722, [S. 3].

– Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739.

Quelle: Frieder Reininghaus, Judith Kemp, Alexandra Ziane, Musik und Gesellschaft, Essay 1713, Bd. 2, S. 404–406.