Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 3

Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 3,  18.11.2022, 9.15 Uhr

 

Fünf 5 Texte im Vergleich

Richard Wagner, Tristan und Isolde bei den Bayreuther Festspielen 20 22,inszeniert von Roland Schwab, dirigiert von Markus Poschner

Textanalyse und -vergleich am Beispiel von fünf Texten aus dem seriösen bzw. öffentlich-rechtlichen Journalismus der Bundesrepublik Deutschland.

Aufgabenstellung:

Bitte beantworten Sie die folgenden zwölf Fragen jeweils für alle fünf Rezensionen:

  1. Informieren die einzelnen Rezensionen (anschaulich und allgemein verständlich oder nur partiell und kaum bzw. unverständlich) über die Bühnengestaltung und das Bühnengeschehen?
  2. Wie (und adressiert an wen) beschreiben die einzelnen Rezensionen die Leistung des ad hoc zusammengestellten „Festspielorchesters“ und des kurzfristig eingesprungenen Dirigenten? Wie die des singenden Personals (inklusive des Chors)? Wie (unterschiedlich) ausführlich, wie systematisch und in welcher Weise wertend?
  3. Gibt es durchgängige Übereinstimmungen im Urteilstenor oder auffällige Unterschiede?
  4. Artikulieren die einzelnen Rezensionen bestimmte Erwartungen an den Event – z.B. vor dem Hintergrund bestimmter „Traditionen“, Gewohnheiten oder ortsüblicher Bräuche, bezüglich der Stilhöhe bzw. einer unterstellten „Angemessenheit“ oder des Unterhaltungswerts? Und wenn ja, welche?
  5. Welche Schwerpunkte setzen die einzelnen Rezensent*Innen? Wirken sich die in den einzelnen Medien vorgegebenen „Formate“ auf Form und Inhalt der Texte aus und wenn ja: gehen Sie davon aus, dass offensichtlich bestehende Vorgaben der Medieninstitutionen bzw. der in diesen Weisungsbefugten einen steuernden Einfluss haben?
  6. Äußern sich die einzelnen Rezensent*Innen grundsätzlich zum Komponisten, zu „Tristan und Isolde“ bzw. der Rezeptionsgeschichte der Sage, ihrer literarischen Verarbeitung und der Rezeptionsgeschichte?
  7. Formulieren einzelne Rezensent*Innen Erwartungen hinsichtlich der weiteren Nutzung(smöglichkeiten) der besprochenen Produktion?
  8. Nehmen die einzelnen Rezensionen die Produktion zum Anlass, Erwartungen hinsichtlich der künftigen Gestaltung der Festspiele und deren Leitungspersonal zu formulieren?
  9. Wie haben Ihnen die einzelnen Rezensionen persönlich gefallen?
  10. Fanden Sie etwas/manches/vieles a) brillant, interessant, bedeutsam bzw. faszinierend oder b) uninteressant, nichtssagend, unnötig oder abstoßend?
  11. Haben Sie den Eindruck, dass Sie von einzelnen der Rezensionen (oder allen) etwas lernen könnten?
  12. Wenn Sie selbst Rezensionen schreiben wollten/sollten: a) Reizt es Sie, etwas methodisch zu adaptieren? Und wen ja: was? b) Was würden Sie möglicherweise/unbedingt vermeiden?

1. Ein regionaler Rundfunkbericht:

Bayreuther Festspiele

Eröffnung mit „Tristan und Isolde“

Diesen Montag war sie endlich: die feierliche Eröffnung der Bayreuther Festspiele. Auf dem Spielplan stand eine Neuinszenierung der Oper „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner, inszeniert von Roland Schwab. Aufgrund vieler Erkrankungen gab es einen Wechsel in der musikalischen Leitung. Letztendlich stand Dirigent Markus Poschner am Pult mit nur zwei Proben. So war das Ergebnis.

Zu Beginn plätschert das Wasser noch friedlich im ovalen Pool des Luxusliners, der Isolde zu ihrem künftigen Gatten König Marke nach Cornwall bringen soll. Doch zunehmend kommt Leben in das Nass. Blutrote Schlieren durchziehen das Wasser, die immer schwärzer werden. Auch der erst blaue, zart bewölkte Himmel oben drüber wird bedrohlicher. Und als Tristan und Isolde den berühmten Trank runterstürzen, wird daraus plötzlich ein wilder Strudel. Die Liebenden geraten buchstäblich ins Auge eines Taifuns, werden mitgerissen in eine entrückte Metawelt der Leidenschaft und der Sehnsucht. Diese ovale Fläche von Bühnenbildner Piero Vinciguerra ist Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung. Durch raffinierte Projektionen wird sie zu einer Art Raumschiff für die Titelfiguren, das sie in andere Welten entführt.

Starke Bilder in der Inszenierung von Roland Schwab

Die Sehnsucht des Publikums wollte Regisseur Roland Schwab ansprechen, es mit poetischen Bildern verführen. Und diesem Vorsatz kommt er nach. Tatsächlich brennen sich manche Bilder ein. Wenn beispielsweise oberhalb der ovalen Fläche ein glückliches Liebespaar, das sich in verschiedenen Altersstufen durch die ganze Inszenierung zieht, eine Art Gegenpol zu den ekstatisch und verzweifelt Liebenden bildet. Oder wenn Kurwenal im dritten Aufzug partout nicht zu Tristan auf die schillernde, lebendige Fläche will und vielmehr den Freund mittels eines Seils in seine, die reale Welt, zurückziehen möchte. Oder wenn die weißen Kostüme von Tristan und Isolde in der Liebesnacht erst auf eine transzendentale Parallelwelt der Glückseligkeit hinweisen, und dann durch einen krassen Lichtwechsel nach der Ankunft Markes von einer Sekunde auf die andere wie Kittel von Patienten einer Psychiatrie wirken. Das hat Kraft und Schönheit.

Textverständlichkeit bei Wagner-Opern ist ein Muss – daran mangelt es

Leider erschöpfen sich diese Bilder-Installationen schnell auch zu bloßem Ästhetizismus. Auch da die Sänger über weite Strecken in Sachen Personenregie völlig alleine gelassen sind, gibt es mitunter starken Leerlauf. Manche Szenen – wie ein älteres Paar, das am Ende herzig Händchen hält – streifen gefährlich die Grenze zum Kitsch. Dass das Musikdrama auf der Strecke bleibt, liegt auch daran, dass die Textverständlichkeit zu wünschen übrig lässt – Ausnahmen bilden der einmal mehr gloriose Georg Zeppenfeld als Marke und Markus Eiche als stimmschöner, geschmackssicherer und kerniger Kurwenal. Ekaterina Gubanova bleibt als Brangäne leider ziemlich blass. Die Stimme von Stephen Gould ist nach wie vor beeindruckend. Auch in den Fieberwehen muss man nie Angst um ihn haben – er muss sie nicht aus dem Leiden entwickeln, sondern meistert sie potent. Was aber fehlt, sind die lyrischen Zwischentöne des Tristan.

Es fehlen die musikalischen Wow-Momente

Catherine Foster startet fulminant: mit runden, wuchtigen Tönen ist sie im ersten Aufzug in jedem Zoll stolze Königstochter, deren Schmerz aber genauso glaubwürdig ist. Leider schleichen sich bei fortgeschrittenem Abend immer wieder Intonationstrübungen ein. Auch deshalb fehlen diesem Tristan “Wow-Momente”, wie “O sink hernieder Nacht der Liebe” oder der Liebestod. Stellen, die Gänsehaut bereiten und einen teilhaben lassen am sich verzehrenden Rausch. Beeindruckend ist, wie Dirigent Markus Poschner auch als Einspringer das Risiko sucht, an dynamische Grenzen geht und mit dem Bayreuther Festspielorchester den symphonischen Wert der Partitur erlebbar macht. Und vielleicht stellt sich das besondere Tristan-Prickeln im Laufe der Vorstellungen ja noch ein. Das Publikum war schon bei der Premiere enthusiastisch und feierte die Beteiligten frenetisch.

 

2. Eine ausführliche Online-Rezension:

Wie Leidenschaft zum Bild wird – Umjubelter „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen 2022

Es gehört im Grund dazu, dass es im Vorfeld der Bayreuther Festspiele irgendwas Skandalträchtiges zu berichten gibt. Viele Jahre sorgte die Familie des Komponisten selbst dafür. Doch auch, seit auf dem Grünen Hügel die Zuständigkeiten klar sind und Katharina Wagner das Unternehmen erfolgreich und beherzt führt, kann man darauf wetten, das irgendwas passiert.

Diesmal gab es kurz vor Festspielbeginn Sexismusvorwürfe. Wer, wann, wem, wie zu nahegetreten ist, gegrapscht hat oder ein paar Sms oder Mails zu viel geschickt hat, weiß man noch nicht so genau – bislang sind alle Quellen anonym. Und weil der sich mit seinem Berliner Mundwerk gut dazu eignet, bekam Christian Thielemann auch gleich noch ein paar Ruppigkeitsvorwürfe ab. In einem raunenden Beitrag der „Zeit“ war das so ähnlich, da ging es bei solchen Vorwürfen vor allem um eine miese Stimmung auf dem Grünen Hügel. Was kann man dem schon entgegensetzten, außer Grundsätzliches und Selbstverständlichkeiten in Sachen Aufklärungsversprechen? Für Schlagzeilen reichte es allemal.

Natürlich mischt das leidige Virus freilich kräftig mit. Zum Glück nicht gleich so, dass es die gesamten Festspiele kippte oder auf einen Rest schrumpfte, wie in den beiden vorigen Jahren. Zu unmittelbaren Folgen führte diverse Einschläge allerdings schon vor dem Festspielstart.

Auch mit Blick auf die mit der Pandemie verbundenen Planungs-Unwägbarkeiten, hatte Katharina vor den nachgeholten Premieren-Vierer mit dem neuen Nibelungenring zusätzlich (und erstmalig in einem Ringjahr) einen neuen Tristan ins Programm genommen. Chorarm, wie der im Unterschied zu Tannhäuser, Lohengrin und Holländer nunmal ist, sind da keine massenhaften Ausfälle zu befürchten bzw. könnte man hier den kurzen Chorauftritt auch zuspielen. Ein kurzentschlossener Tristan also zur Sicherheit. Das dafür engagierte Gespann Roland Schwab (Regie) und Cornelius Meister (Dirigent) wusste vor einem reichlichen halben Jahr noch nichts davon. Als die Hiobsbotschaft kam, dass der vorgesehene Ringdirigent Inkinen erkrankt ausfällt, wechselte Cornelius Meister kurzerhand zum Ring. Für Tristan holten man Markus Poschner ins Boot. Gerade mal zwei Proben mit dem Orchester blieben ihm bis zur Premiere. Wobei dieses Orchester natürlich schon per Definition einen Tristan drauf hat. Und doch bleibt Spielraum für Scheitern oder Extrajubel.

Leidenschaften, diesseitig

Poschner wurde für seine mutige Flexibilität, vor allem aber für das Resultat bejubelt. Es war kein narkotisierender Verführungsversuch a la Thielemann. Hier loderten die Leidenschaften eher diesseitig, beherzt aber auch mal wie ins Nichts verhaucht. Immer fein abgestimmt mit den Sängern. Und die lieferten Festspielniveau. Catherine Foster (die Brünnhilde aus dem Castorf-Ring hat beim Bayreuthpublikum eine Fangemeinde!) lässt ihre Stimme in voller Pracht von der Leine – macht besonders aus dem ersten Aufzug ein Isoldeerlebnis mit Wow-Effekt. Auch der tristanerfaherene Stephen Gould wirkte freier als in der Vorgängerinszenierung der Hausherrin, lieferte einen Tristan ganz bei sich und seinen immer noch beträchtlichen Fähigkeiten. Auch als Tristan im dritten Akt im Sterben lag, hatte man nicht einen Augenblick die Sorge, dass dieser Sänger (der ja auch noch im Ring und im Tannhäuser eine tragende Rolle spielt) die Zielgerade nicht erreicht.

Dazu die sich im Timbre deutlich von Isolde abhebende Brangäne Ekaterina Gubanova und der prägnante und (durchweg) textverständliche Kurwenal von Markus Eiche. Wie erwartet ist Georg Zeppenfeld die sichere Marke-Bank schlechthin, zumal er diesmal auch nicht den Fiesling geben muss, wie in Katherinas Inszenierung. Dass man bei Zeppenfeld und Eiche jedes Wort versteht, liegt an deren Format, aber natürlich auch an ihren Partien. Dass es die Interpreten von Isolde, Tristan, und Brangäne da deutlich schwerer haben, aber auch. Es gab in der letzten Zeit zwar tatsächlich Isolden, bei denen man jedes Wort verstanden hat – allerdings konnte man da auch mitlesen. (Damit das nicht anonym bleibt: bei Stephanie Müther in Chemnitz war das exemplarisch so.)

Musikalisch war dieser Tristan jedenfalls beim Publikum, dass den gleichen Extremtemperaturen im Festspielhaus ausgesetzt war wie die Sänger, ein voller Erfolg. Im vollbesetzten Haus musste es allerdings auch nur zuhören und darauf achten, dass nicht das Handy auf den Holzboden fällt. Was nicht jedem gelang …

Über ungeteilte Zustimmung konnten sich aber auch Roland Schwab, Piero Vinciguerra (Bühne) und Gabriele Rupprecht (Kostüme) freuen. Schwab versucht mit seiner Deutung Wagners „Löse von der Welt mich los“ erfahrbar zu machen und auf diese Welt zurück zu reflektieren. Wenn Tristan und Isolde am Ende beide im Tode vereint sind, kommt ein altgewordenes Paar langsam an die Rampe. Es ist ein tröstlicher Philemon-und-Baucis-Moment. Schon während des Vorspiels haben wir die beiden als junges Paar gesehen und auch danach tauchen sie, etwas älter geworden, noch einmal auf. Liebe ist auch im Leben möglich, so die Botschaft einer Bildersprache, in der die Leidenschaft zum Bild wird.

Atemberaubende Bilder

Die Bühne ist ein halbrunder begrenzter Raum. In der Decke und im Boden geben ovale Ausschnitte den Blick in den Himmel und in die Tiefe brodelnder Leidenschaften frei. Die Videos (Luis August Krawen) sind hier keine Wirklichkeitssimulation, sondern Teil der Bühne. Anfangs tigert Isolde wie eine Gefangene kurz vor der Explosion um den mit noblen Liegestühlen eingerahmten Pool. Der beginnt sich blutrot zu färben. Wenn der Liebestrank aber wirkt und Tristan und Isolde gleichsam übers Wasser zu gehen lernen, dann wandelt er sich in einen Strudel (der Leidenschaft), der die beiden zueinander und in einen Abgrund zieht. Das ist ein atemberaubendes Bild. Im Zweiten Aufzug ist es das Sternenfirmament, das sich zu spiegeln scheint. Die sind losgelöst von der Welt. Dass die große Liebesszene bei der die Sterne tanzen, zum Tribunal wird, bei dem Tristan in der Mitte auf einem Verhörstuhl sitzt und Melot Isolde mit einem der Scheinwerfer traktiert (wobei man sich fragt, ob der tatsächlich flackern sollte, nachdem alle anderen ausgeschaltet worden waren), erreicht die beiden nicht wirklich. Grandios das Bild wie der metaphorische feindliche Tag in Form einer Batterie von gleißenden Neonröhren langsam auf Tristan niedergeht und ihn (ohne, dass Melot seine Waffe zücken muss) tödlich verletzt. Im dritten Aufzug dann – ein Bild aus der Rubrik „schöner Sterben“. Trauerweiden wuchern jetzt herunter, Tristan liegt wie aufgebahrt zwischen Kerzen. In weißer Kluft, so wie dann auch Isolde. Am Ende trauert auch der König sichtbar. Möglicherweise mehr um Tristan als um Isolde. Vor deren Weltflucht senkt sich ein transparenter Schleier, durch den eine Utopie schimmert, die die beiden Alten vor diesem Vorhang trotzig in ein „Liebe ist auch auf Erden möglich“ quasi übersetzen. Ewig…. stand die ganze Zeit als rätselhafter Schriftzug neben der Szene …

3. Ein Wochenmagazin:

Die Musik sagt ja alles

Große Gefühle und kleine Gefühligkeiten: „Tristan und Isolde“ als erstaunlicher Lückenfüller in Bayreuth.

Das Beste wäre wohl, wenn diese Produktion nicht allzu viele Zuschauer erlebte. Nicht weil sie schlecht wäre, im Gegenteil. Aber die Neuinszenierung von Tristan und Isolde ist der Corona-Joker im diesjährigen Bayreuther Spielplan. Fällt eine andere Vorstellung aus, weil sich einer der Beteiligten infiziert hat, wird Tristan eingewechselt; bleiben alle gesund, und das ist natürlich zu hoffen, gibt es diesen Sommer nur eine weitere Vorstellung sowie zwei im nächsten Jahr (für 2024 ist dann schon die nächste Tristan-Neuinszenierung vorgesehen). Auch in anderer Hinsicht ist dieser Tristan ein Ausnahmefall: Das Regieteam um Roland Schwab war erst im Dezember beauftragt worden, legte seine Konzeption buchstäblich über Nacht vor und wurde dann irgendwie in den ohnehin eng gestrickten Probenplan gezwängt. Wenige Tage vor der Premiere wechselte zudem noch der Dirigent: Der eigentlich vorgesehene Cornelius Meister rückte an die Stelle des an Corona erkrankten Ring-Dirigenten Pietari Inkinen und wurde seinerseits durch den Bayreuth-Einspringer Markus Poschner ersetzt.

Es gäbe also eine Menge Gründe, mit denen sich eine missratene oder auch nur leicht windschief zusammengenagelte Premiere entschuldigen ließe. Aber was sagt es über die Bayreuther Routinen aus, dass nun ausgerechnet dieser Ausnahme-Tristan zu den interessanteren Produktionen gehört, die dort zuletzt zu sehen waren?

Das liegt natürlich auch an der Besetzung. Stephen Gould, der diesen Sommer außerdem noch als Tannhäuser und Siegfried besetzt ist, spult die Partie des Tristan routiniert und bis in die Schlusstakte hinein mühelos ab. Catherine Foster hat einen sehr guten Abend als Isolde, wobei sie im Schlussgesang mitunter einen Viertelton zu tief liegt. Ekaterina Gubanova glänzt als Brangäne, Markus Eiche als Kurwenal und Georg Zeppenfeld als König Marke.

 

4. Ein überregionales Radioprogramm:

Paare und Passanten im Videogeflimmer

Mit Richard Wagners Liebesdrama „Tristan und Isolde“ eröffnen die Bayreuther Festspiele. Das Publikum feiert Roland Schwabs Inszenierung. Doch unsere Kritiker*In ist enttäuscht von viel Dekor und verbrauchten Gesten.

Nimmt man die Publikumsreaktionen als Maßstab, so war dies möglicherweise die beste Premiere der Saison. Nach jedem Aufzug herrschte Jubel, Trubel und Fußgetrampel. Am Ende gab es kein Halten mehr, noch in die letzten Töne hinein begann das Klatschen.

Wer ganz genau hinhörte, erkannte vielleicht einige wenige Buhs für den Tristan-Tenor Stephen Gould, aber es waren möglicherweise nur missverstandene Jubelrufe. Handelt es tatsächlich bei dieser Bayreuther Festspieleröffnung um eine Sensation?

Solide Stimmen, verschliffene Texte

Eher weniger. Geboten wird eine Sängerbesetzung, die im Großen und Ganzen solide ist. Erwähnter Stephen Gould schmettert eindrucksvoll eindringliche Kantilenen, die oft messerscharf beginnen und manchmal wabbelig-tremolierend enden.

Catherine Foster verkörpert eine vokal wie gestisch fast ständig unter Starkstrom stehende Isolde, mit einschlägigen Trompetentönen, die leider öfters ins Scharfe oder – freundlicher formuliert – Überakzentuierte gehen. Den Text versteht man praktisch nicht, wie solch gestandenen Künstlern plötzlich ihre Gabe zu deutlicher deutscher Diktion abhandengekommen ist, bleibt ein Rätsel.

Die kleinen, feinen Partien sind exzellent besetzt, vor allem mit Georg Zeppenfeld als König Marke und Markus Eiche als Kurwenal. Was dem recht kurzfristig eingesprungenen Dirigenten Markus Poschner gelingt, ist eine sehr gute Verzahnung zwischen Graben und Bühne.

Es ist ein Sturm-und-Drang-Konzept, das Poschner da umsetzt und auch Regisseur Roland Schwab zeigt viel Aufgepeitschtes im Innenleben der Protagonisten. Nur verliert sich die Inszenierung leider häufig im Händeringen und verzweifelt am Bodenliegen oder Augenrollen – muffige Standardgesten aus alten, schlechten Opernzeiten.

Wellen, Blut und weißes Rauschen

Hinzu kommt eine über drei Aufzüge hinweg dann doch nervende Bühne (Piero Vinciguerra). Oben sind Wolkenprojektionen oder ein Sternenhimmel, unten sieht man Wasser, Wellen, Blut, sich drehende Kreisel, weißes Rauschen – je nach Stimmung und Situation im Stück. Das bleibt alles Dekor und wirkt in seiner einhämmernden Wiederholung unangenehm aufdringlich.

Schaulaufen der Prominenz

Dies mag als Hoffnungsschimmer zu deuten sein, es gibt eben auch Paare, deren Liebe bis ins hohe Alter hält. Allerdings, und gerade davon erzählt ja Wagners Oper, für Tristan und Isolde gilt das nun gerade nicht. So bleibt dieser Bayreuther Auftakt eine eher mittelmäßige Angelegenheit mit ein paar schönen Momenten, keinerlei Provokationspotential, wenig Denkaufgaben.

Eine leichte Spannung gab es indes, als der bayerische Ministerpräsident Markus Söder nebst Gattin ins Blitzlichtgewitter der Adabei-Presse tauchen wollte und ausgerechnet in diesem Moment die Gottschalks erschienen. Und schwupps waren die Kameras auf den unverwüstlichen Entertainer und seine Frau gerichtet. Allen vieren hat der Abend übrigens, wie später zu hören war, außerordentlich gut gefallen. Na denn!

 

5. Ein überregionales Feuilleton:

Schwimmen im gestürzten All

Staunend, träumend, zart: „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen

Während Hunde und Katzen ihr Revier chemisch markieren, bevorzugt der Eventkonsument die akustische Variante, um zu zeigen: „Hier bin ich, das ist meins.“ Die Männer, zumeist Grobmoto­riker, schießen Wasserflaschen oder ein­geschmuggelte Trinkgläser mit den Füßen zwischen die Stuhlreihen des Fest­spielhauses, dass es nur so scheppert. Die. Frauen, die dem dämmerungsaktiven Teil der Menschheit zuneigen, geben pünkt­lich mit Verlöschen des Saallichtes dem Wühltrieb nach, der sie im Hellen erstaunlicherweise so gut wie nie befällt, und pflügen mit den Fingern geräusch­voll den Inhalt ihrer Handtaschen um. Es ist also richtig was los; während das Orchester im Graben so tut, als spiele dort die Musik.

Niemand im Saal bemerkt, dass das Vorspiel zu Richard Wagners traurig­schönem, toxisch-süßem Musikdrama „Tristan und Isolde“ längst begonnen hat. Markus Poschner, beim Ringtausch der Dirigenten erst vor zehn Tagen einge­sprungen, hat die Celli mit dem kleinen Sextaufschwung a-f anheben lassen in einem konzentrierten Pianissimo, das der, sich selbst feiernden Präsenz der Nichtzu­hörer hoffnungslos unterliegt. Das Erste, was man vernimmt, ist der Tristan-Ak­kord f-h-dis-gis in Celli, Hörnern, Klari­netten, Fagotten und im Englischhorn in Takt zwei.

Poschner liegt, über die mehr als vier Stunden des Abends hinweg, an der Inti­mität dieser Musik. „Tristan und Isolde“ ist für ihn eher einzartes, kein brüllendes Stück. „Intensiv“ heißt hier nicht automatisch „laut“, obwohl die Fieberausbruche im dritten Aufzug auch orchestral

keines­wegs geflüstert werden. Wenn der Regis­seur Roland Schwab in seinen Kommentaren von der „Dialektik“ Wagners spricht, dann hört man bei Poschner davon schon in den ersten Takten etwas: Das Timbre des Orchesters zielt ins Helle, Hohe. Die Erotisierung des Paarsui­zids, des gemeinsamen Sterbens auf dem Höhepunkt des Glücks, geht mit Verhei­ßungen des Aufstiegs einher. Sehr richtig macht Schwab darauf aufmerksam, dass die Gesangslinie im berühmten Liebes­duett „O sink hernieder; Nacht der Liebe“ aufsteigt, nicht absteigt. Und diesen Drang nach oben arbeitet Poschner schon im Vorspiel auf der farblichen Ebene heraus. Dass er, bei nur wenigen Proben, besonders im zweiten Aufzug so sensibel auf die Singenden reagiert, beweist, wie gut er das Stück einerseits kennt, ande­rerseits zuhören kann auf das, was im konkreten Augenblick geschieht.

Nur zwanzig Tage waren Piero Vinci­guerra geblieben, um das Bühnenbild zu konzipieren, nachdem die Entscheidung für einen neuen „Tristan“ bei den Fest­spielen erst kurz vor Weihnachten gefallen war. Entstanden ist ein akustisch vor­züglicher Innenraum mit einem bassinar­tigen Oval auf dem Boden und elliptisch durchbrochener Decke, durch die man in den Himmel sehen kann. Der Himmel wie die Oberfläche des Bassins werden durch Videos von Luis August Karwen aufwendig animiert. Wolken treiben vorüber. Das Blau stürzt ins Grau, Im zweiten und dritten Aufzug blinken die Sterne durch die Nacht. Für die Lieben­den tanzen sie auch, um neue Sterne zu gebären. Durch die Bühne, die Videos und durch das Licht von Nicol Hungsberg wird mehr Drama erzeugt als durch das Spiel der Figuren, das fast so statisch ist wie in einer Robert-Wilson-Inszenie­rung. Und doch hat die Regie ein durch­dachtes Konzept.

Roland Schwab behält das zentrale Oval während der Animationen – die Ausnahmezustände der Existenz, Ekstasen des Glücks wie des Schmerzes spiegeln – ausschließlich Tristan und Isolde vor. Sie betreten es erstmals, als der Liebestrank zu wirken beginnt. Die Liebe lässt sie zu Glaubenden werden, und plötzlich kön­nen sie – übers Wasser laufen. Dem Mahl­strom totaler Vernichtung setzen sie sich liegend aus, aber sie gehen in den Wirbeln nicht unter. Für Schwab ist „Tristan und Isolde“, wie er am Samstag in der Presse­konferenz sagte, „die schönste Lebensver­neinung, die je komponiert wurde“, und er gönnt den Hauptfiguren wie dem Publi­kum im zweiten Aufzug Bilder traumver­lorener, schönheitstrunkener Weltentrü­ckung: Tristan und Isolde schweben auf der Oberfläche des Bassins wie in einem umgestürzten Kosmos durch die Unend­lichkeit des Sternenmeers. Oben ist unten, die Nacht sinkt, die Liebenden fliegen.

Ihre Entdeckung durch König Marke, Isoldes Mann, und Melot (Olafur Si­guardson) führt zu einem Doppelverhör mit Lichtfolter durch Scheinwerfer und Neonröhren. „Aufklärung“ als krimino­logischer Terminus erscheint als luminö­se Metapher der Gewalt. Tristan wird im dritten Aufzug an den Folgen der Verstrahlung sterben.

Stephen Gould, der bei den Festspielen in diesem Jahr noch den Tannhäuser und den Siegfried singt, ist eine unbegreifli­che Kraftnatur von Tenor. Seine Stimme, bronzen-schwer, ist nicht unbedingt gewinnend, aber charakteristisch, aus­dauernd und abwechslungsreich. Er hat Stütze und Zartheit für das Liebesduett im zweiten Aufzug, er hat die Stoßkraft für die Fieberschübe am Ende, die er klanglich aus kreatürlichem Stöhnen heraus entwickelt; und er haucht das letz­te „Isolde“ im Pianissimo eines Sterben­den: Gesang, der ganz aus dem Drama erwächst. Catherine Foster singt die Isolde mit strömender Wärme, anschmieg­sam, am Ende des zweiten Aufzugs zer­brechlich-zutraulich wie ein kleines Mäd­chen. Etwas mehr Gestaltungsarbeit am Text in den Erzählungen des Anfangs könnte man sich wünschen.

Ekaterina Gubanova, die umwerfende erste Venus in Tobias Kratzers Bayreuther „Tannhäuser“-Inszenierung, die am 8. August wiederaufgenommen wird, ist als Brangäne ein wenig zu dramatisch. Unruhe liegt in ihrer an sich schönen und vollen Stimme, den Text versteht man kaum. Vorbildlich dagegen singen und sprechen Markus Eiche als Kurwenal und Georg Zeppenfeld als König Marke, die als Wagner-Sänger das Ideal dessen verkör­pern, was man sich hier für jede Rolle wünschen würde: beide ihre Rolle – mit verzweifelter Traurigkeit – ausfüllend, bei­de mit Sinn für die Schönheit gesungener Sprache in Diktion und Phrasierung, stets einer fordernden Partitur verpflichtet.

Roland Schwab kontrastiert die Erzäh­lung von Tristan und Isolde, zweier Ex­tremisten des ekstatischen Augenblicks, mit dem Lebensweg eines stummen Paa­res, das wir im Vorspiel als Kinder, im zweiten Aufzug, als Erwachsene sehen: beieinandersitzend, Hand in Hand, träu­mend, staunend, still. Zum Schluss; wenn Isolde ihren Liebestod singt, der ein ein­samer Tod ist wie jener Tristans, kehrt das stumme Paar im Greisenalter auf die Bühne zurück und findet sich wieder Hand in Hand. Den zwei Ausnahmemen­sehen, die nur. alles oder nichts wollen und im Kick höchster Lust die Auslö­schung suchen, stehen zwei Unscheinba­re gegenüber, die das Leben als Geschenk hinnehmen. Ihnen ist gegeben, was Tris­tan und Isolde fehlt: Dankbarkeit. Doch Schwab spielt beide Paare nicht gegenei­nander aus. Er zeigt für sie gleicherma­ßen Empathie und Bewunderung.

Noch bevor der letzte H-Dur-Akkord in Schönheit erstirbt, muss die Gattung der Eventkonsumenten signalisieren, dass Zeit und Geld richtig investiert waren. Man jubelt, klatscht, triumphiert in lautstarker Brutalität in die Musik hinein, hörbar unberührt von deren Weisheit und Traurigkeit. Und anders als bei den Klimaaktivisten. die vor Beginn der Vorstellung in den Bäumen des Festspielparks eine Emissionsent­schuldung der Entwicklungsländer for­derten, hat diese Lautkundgabe keinen andren Zweck, als auf sich selbst zu verweisen.

 

 

Aix-en-Provence 2022

Reproduktion der Reproduktion

Preisträgerkonzert des Aeolus-Bläserwettbewerbs, 11.9.2022, Tonhalle Düsseldorf

Der Nachwuchs kann sich hören lassen. Mehr noch: In der Düsseldorfer Tonhalle bescherten die siegreichen Finalisten des 16. Internationalen Bläserwettbewerbs Aeolus einen auch musikalisch besonnten Sonntagmittag im September. Besonderen Pfiff hatte Vincent Davids Pulse, ein Solo von sieben Minuten Dauer. Der als bester Interpret zeitgenössischer Musik ausgezeichnete Roman Markelov entlockte sie seinem Saxophon. Dies einzige Stück neueren Datums bot der stupenden Technik des in Moskau geborenen Kölner Studenten beste Demonstrationsmöglichkeiten für blitzschnelle Registerwechsel, sonore Tiefen, grelle Höhen. Schlagimpulse auf den Klappen strukturieren die exaltierte Melodie-Lineatur. Deren Notation knüpft an den Aufzeichnungskurven eines Apparats der Intensivmedizin an und steuert effektiv einem herzzerreißenden Höhepunkt zu.

Vor dieser kurzweiligen Zugabe absolvierte Salvatore Alessandro Miceli im Hauptprogramm Pierre-Philippe Bauzins Poème (1960). Der christlich fundierte inbrünstige Dialog ohne Worte zwischen Solist und Orchester bietet weit weniger Angriffspunkte zum Vorführen technischer Finessen als Pulse. Dies ist in der zugespitzten Wettbewerbssituation ein Handicap, das der aus Sizilien stammende Saxophonist trotz makelloser Leistung nicht kompensieren konnte. Von der Jury wie durch das Plebiszit wurde sie auf Platz 3 verwiesen.

Gerahmt wurde das epigonale Poème von altbewährtem Mozart. Karsten Hoffmann, seit drei Jahren beim Sinfonieorchester Wuppertal, absolvierte das Horn-Konzert KV 595 makellos mit souveräner Gelassenheit und holte sich den 2. Preis. Der erste ging an Oliver Shermacher (Australien). Er nutzte das Klarinetten-Konzert mit Gefühl fürs Elegische, beeindruckender Fingerfertigkeit und lockerem Charme für eine sehenswerte Performance. Die Ungenauigkeiten der von Vitali Alekseenok aufgemunterten Düsseldorfer Symphoniker konnten ihn nicht beirren.

Gewiss sind Studierende froh, wenn sie sich bei einem gutdotierten Wettbewerb profilieren und ggf. einen Scheck mitnehmen können. Als wären sie die Meistermerker von Nürseldorf, saßen die älteren Herren der Jury beim Final-Konzert in einem vom übrigen Auditorium abgegrenzten Geviert. Sie waren zum selben Urteil gelangt wie das Publikum. Auf die Erfüllung von dessen eingefleischten Erwartungen ist die Veranstaltung ausgerichtet. Im Prinzip ist sie edel, hilfreich und gut für die Reproduktion von „Klassik“-Nachwuchs.

Eine Redakteurin des Deutschlandfunks fungiert bei Aeolus seit 16 Jahren als moderierende Glücksfee. Eigentlich hätte sie sich von Berufs wegen unabhängig journalistisch um Aktuelle Kultur zu kümmern. Warum die Rundfunkgebührenzahler das als steuerbegünstigte Stiftung aufgesattelte Steckenpferd des sehr gewinnend auftretenden Bankiers und Enthusiasten Sieghardt Rometsch mitfinanzieren müssen, bleibt erklärungsbedürftig. Was veranlasst den DLF, ausgerechnet einem langjährigen Repräsentanten einer schlecht beleumundeten Investmentbank dauerhaft als „Kulturpartner“ zu dienen und seine musikpolitische Aktivitäten nicht demokratisch-pluralistischer auszurichten? Auch beim Deutschlandfunk sind Glasnost, Perestroika und Frischluft angesagt.

Er hat sich nicht geschont

Zum Tod des Dirigenten und Intendanten Stefan Soltesz

Das letzte mal gesprochen habe ich mit Stefan Soltesz Ende Juni an einem Tischchen auf dem Trottoir vorm Restaurant Rosati in der Berliner Bismarckstraße. Man konnte sich an jenem Sonntagnachmittag in der Deutschen Oper von den Qualitäten bzw. dem Misslingen der „Meistersinger“-Aufarbeitung von Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito überzeugen. Nach den gut sechs Stunden Verweildauer im Betonklotz auf der anderen Seite des Boulevards waren angesichts der hochsommerlichen Außentemperatur kühle Getränke angesagt.

Soltesz saß schon und hatte den schlimmsten Durst gestillt. „Ich wohne ja, wenn ich in Berlin bin, hier direkt um die Ecke“ – und schon berichtete er, vital und bestens gelaunt, was er in nächster Zeit alles dirigieren werde. Vornan „Die schweigsame Frau“ von Stefan Zweig und Richard Strauss. Die ging ihm hörbar im Kopf herum und er scherzte über den letzten Satz des Sir Morosus: „Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist!“. Es ergab sich ein längerer Gesprächsabschnitt zu seinem Faible gerade auch für die seltener gespielten Bühnenwerke des Garmischer Meisters. Wir waren uns nicht ganz einig hinsichtlich der immer noch bemerkenswerten, aber eben für die Nachwelt nicht ganz unproblematischen Routine der Bühnenarbeiten aus den 1930er und 40er Jahren samt deren toxischen Nebenwirkungen.

Kurz unterhielten wir uns auch noch einmal über die „Ägyptische Helena“. Nach der Uraufführung 1928 war ihr weiters der Erfolg versagt geblieben. Offensichtlich wirkte das Werk bereits auf die Augen und Ohren der Zeitgenossen anachronistisch. Dennoch riskierte Soltesz vor zwanzig Jahren die Reaktivierung. Der Bühnenbildner und Regisseur Gottfried Pilz sorgte für die szenische Realisierung.

Wir erinnerten uns an die Probleme, die Hugo von Hofmannsthals Verquirlung von Seitensträngen der Sagen vom Aufstieg und Fall der Stadt Troja und Goethes „Faust II“ mit einem modernen Ehe-Drama damals der Produktion konzeptionell beschert hatten. Auch, wie die Befürchtungen, dass sich Werke wie dieses am Ende noch nicht erfolgreich würden reanimieren lassen, damals zerstoben, indem Helen Donath als Aithra das zerstrittene Paar aus Mythologien, die mit Heroinen-Stimme zuschlagende Luana DeVol und den wendigen Tenor Hendrik Vonk, zusammenzaubern konnte. Mit zäher Energie und glücklicher Dirigentenhand hatte Soltesz seinem Essener Strauss-Zyklus 2003 eine weitere Spitzenleistung hinzugefügt. Überhaupt imponierte er kontinuierlich mit intensiver Spannkraft und dem sichtbaren Willen, Orchester und Stimmen für hohe Ziele rigoros zu fordern.

Braunschweig und Antwerpen

Man konnte ihn gelegentlich im Zug von West-Berlin Richtung Helmstedt und weiter in die westliche Bundesrepublik sehen. Braunschweig liegt an der Strecke. Dort war Soltesz ab 1988 als Generalmusikdirektor engagiert, als noch die D-Züge mit den Sechser-Abteilen verkehrten. Er benötigte vorzugsweise zwei oder drei Sitzplätze für die aufgeschlagenen Partituren, die er durcharbeitete. Er verließ das Staatstheater im östlichen Niedersachsen, als die von ihm betriebene Anhebung des Orchesters in den A-Status (und damit die Zahl der Planstellen) von Gerhard Schröders Landesregierung in Hannover erst einmal abschlägig beschieden wurde. Als er es ernst meinte mit seinem Abgang, wurde die Aufbesserung dann doch bewilligt.

In einem belgischen Waggon auf dem Weg zu einer Premiere der Flämischen Oper in Antwerpen, wo Soltesz von 1992 bis 1997 als Chefdirigent unter Vertrag stand, kamen wir übers Partitur-Studium ins Gespräch. Er hatte in erster Linie so präzise wie möglich zu memorieren, wie das Stück gebaut ist – Kritiker und Wissenschaftler sind ggf. auch mit der übers Handwerkliche hinausreichenden Frage konfrontiert, „was es ist“. Diesem Ansinnen freilich stellt sich in günstigen Fällen auch der Dirigent und nicht nur im Vorfeld einer Produktion.

Die Methode, mit der Soltesz in Antwerpen und Gent beispielsweise das Triebleben der „Toten Stadt“ von Erich Wolfgang Korngold aufheizte, blieb gewöhnungsbedürftig. Musikalische Langeweile freilich war das letzte, was den von Soltesz befehligten Abenden vorzuwerfen blieb. Und das Orchester profitierte vom Arbeitsstil und -ethos des Chefs.

Große Machtfülle, weiter Gestaltungsraum

In Essen war Soltesz von 1997 bis 2013 Generalmusikdirektor der Philharmoniker und Intendant des Aalto-Musiktheaters. Er startete mit Beethovens und Hilsdorfs „Fidelio“. Der Amtsvorgänger Wolf-Dieter Haunschild hatte das Konzept als „zu provokant“ abgelehnt. Denn Dietrich Hilsdorf machte der Betulichkeit des Textes durch radikale Kürzungen der Dialoge und Hinzufügung kess kommentierender Obertitel den Garaus. Soltesz behandelte Beethovens Musiktheaterschmerzenskind pfleglich, trug der Heterogenität der musikalischen Momente vollauf Rechnung. In hohem Maß ließ er sich von den Ansprüchen des Gesamtkunstwerks Oper leiten und hatte nicht nur sein Metier im Blick. Das Aushandeln von Verträgen war ihm nach eigenem Bekunden eher Lust als Last – und das Einhalten von Etatplänen hielt er für selbstverständlich. „Das war mir nie lästig. Ich bin gern Manager“, sagte er einmal.

Im November 1999 setzte er in Essen mit dem „Regie-Berserker“ Hilsdorf auch dessen Verdi-Zyklus fort. Der Regisseur versuchte, die von der Zensur und von problematischen Umarbeitungen verdorbene (und daher immer wieder zur Parodie reizende) Handlung des Maskenballs dadurch zu „retten“, dass er sie an einen Märztag des Jahres 1858 und nach Neapel verlegte: ein König Riccardo, so lebens- und liebeshungrig wie unterschwellig todessüchtig, inszenierte da sich und seinen rauschenden Lebensstil. Hilsdorf entfachte ein bitterböses Beziehungsfeuer, wiederum sekundiert von launig formulierten Obertiteln: Hinter der Harmonie lauerte der Terror.

Auch bei der durch Salvatore Cammerano politisch entschärften „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller retuschierte Hilsdorf erheblich. Er reicherte Verdis Musikdrama mit Stichworten Georg Büchners an. In drastischen Bildern predigte er „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“, streute die militantesten Liebesgrüße des „Hessischen Landboten“ ein. Aber die Titelheldin Luisa Miller, so will es das Stück, muss schließlich doch dem Quartett verkommener Männergestalten unterliegen – einem abgrundbösen Grafen Walter und dem verhaltensgestörten Faktotum Wurm, dem egoistischen Vater, diesem daueralkoholisierten Querulanten, und einem lauttönenden Tenor-Liebhaber, der doch nur ein jämmerlicher Versager ist.

Die brutale Deutlichkeit und Eindeutigkeit der Sichtweisen Hilsdorfs prägte das Repertoire des Aalto-Theaters am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie setzte im Verbund mit dem musikalischen Qualitätsanspruch und den mitunter eigenwilligen Interpretationen von Soltesz emphatische Signale in der Ruhr-Region.

Freilich nicht im Alleingang. Peter Konwitschny inszenierte „Daphne“ von Richard Strauss, bei der es zentral um das erotisch-sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau geht. Der DDR-gestählte Regisseur überformte den Schluss der Oper mit wiederkeh­renden Projektionen von BDM-Fräuleins, Hitler-Jungs, Mas­senaufmärschen und dem kahlen Kopf des alten Strauss. Damit sollte auf die „objektive“ Funktion verwiesen werden, die dieses Stück zum Zeitpunkt der Entstehung erfüllte. Unterstellt wurde ein subkutan pronazistischer Kontext des Werks. Das setzte auch den dirigierenden Intendanten, einen eifrigen Protagonisten des großen Richard Strauss, kontroversen Diskussionen aus.

Der hielt im 1988 eingeweihten Theaterneubau an der Rolandstraße energisch und mitunter wohl auch etwas feldherrlich die Fäden sowie bemerkenswert oft auch den Taktstock in der Hand – stets recht gebieterisch, doch eben auch umsichtig. Die verlässliche Kontinuität, mit der er das Haus programmierte und disponierte, bescherte diesem eine gute Auslastungsquote. Der im Zusammenwirken mit Hilsdorf gewachsene Verdi-Zyklus, die Vitalisierungen von Opern und szenisch aufbereiteten Oratorien Georg Friedrich Händels und die Wagner-Produktionen prägten das Programm des Essener Hauses.

Vor allem auch markante, wuchtige und illustre Strauss-Anstrengungen u.a. mit Konwitschny und Pilz, Nicolaus Brieger und Tilman Knabe. Die als Revue über Geld und Liebe dahertänzelnde „Lustige Witwe“ durfte so wenig fehlen wie der von Stefan Herheim brillant interpretierte „Don Giovanni“: eine österreichisch-ungarische Fundierung prägte den Grundton und das Aroma. Auch Aktuellem half Soltesz zum Durchbruch: Mit der Uraufführung der „Arabischen Nacht“ von Roland Schimmelpfennig und Christian Jost brachte er eine der interessanteren Arbeiten des neuen Musiktheaters zur Uraufführung. Als einziges Opernunternehmen weit und breit konnte das Aalto-Theater eine Zeitlang mit den großen Staatsbetrieben der benachbarten Königreiche in Brüssel und Amsterdam auf gleicher Augen- und Ohrenhöhe mithalten.

Unterwegs

Geboren wurde Stefan Soltesz 1949 in Nyíregyháza im Grenzland von Ungarn, Rumänien, der Ukraine und der Slowakei. Als Siebenjähriger kam er nach Wien – wie so viele Ungarn, die im Kontext der politisch-militärischen Spezialoperation der Sowjetunion gegen ihr nur noch unwillig gulaschkommunistisches Heimatland 1956 nach Westen emigrierten. Stefan wurde Sängerknabe und Österreicher. Die Ausbildung setzte sich an der Wiener Hochschule für Musik und darstellende Kunst fort. Soltesz studierte Klavier, Komposition und insbesondere Dirigieren bei Hans Swarowsky. Erfahrungen sammelte er auch als Assistent so unterschiedlicher Dirigententypen wie Karl Böhm, Christoph von Dohnányi und Herbert von Karajan.

Die Kapellmeisterkarriere begann 1971 im Theater an der Wien – Soltesz war gerade 22 Jahre alt geworden. Über Berlin, Hamburg, Paris und London setzte sie sich fort. Sie führte nach Catania, Bilbao, Buenos Aires, Washington, San Francisco und Japan. Die festen Leitungspositionen in Niedersachen, Antwerpen/Gent und insbesondere im Ruhrgebiet erweiterte den individuellen Gestaltungsradius. Orchesterschulung über einen längeren Zeitraum war Soltesz ebenso ein Anliegen wie die Anteilnahme an der Entwicklung von Sänger*innen.

Mit den Jahren reiften die Interpretationen. Das Gespür für Zwischentöne und Finessen wuchs ebenso wie das Bewußtsein, wie notwendig jeweils das Bemühen um stringente Werkgestalt ist. Zusammen mit Hilsdorf brachte Soltesz 2011 eine Version von „Hoffmanns Erzählungen“ heraus, die den ursprünglichen Intentionen Offenbachs wohl so nahe kam wie bislang wenige. Damit wurde beiläufig eine 130jährige Bearbeitungsgeschichte kritisch kommentiert. Dies Ringen um die Balance zwischen Verantwortung gegenüber dem historisch relativierten Notentext und der für alle Interpretation gebotenen Frische bildete auch die produktive Voraussetzung für orchestrale Großwerke wie Gustav Mahlers Dritte. Soltesz dirigierte die so manche Naturschönheit, mythische Fernen und hautnahe Gefühle anrufende Symphonie Anfang 2012 an der alten Wirkungsstätte in Braunschweig. Im Rahmen dieses von Altsolo, Knabenchor und Frauenchor überwölbten Konzerts wurde er zum Ehrendirigenten des Staatsorchesters ernannt.

Die letzte große Produktion der sechzehnjährigen Amtszeit in Essen war ein „Parsifal“, den der Choreograph Joachim Schloemer in eine der theatral längst über Gebühr in Anspruch genommenen Intensivstationen einhegte. Medizinische Extrembehandlung ist Stefan Soltesz im wirklichen Leben schließlich erspart geblieben. Nach einem knappen Jahrzehnt neuerlich intensiver und höchst erfolgreicher Reisetätigkeit ist er am 22. Juli 2022 in der Bayerischen Staatsoper München gegen Ende des ersten Akts der unter seiner Stabführung musizierten „Schweigsamen Frau“ zusammengebrochen und war tot. Er hat es ernst gemeint mit seinem Abgang.

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