Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 4, 2.12.2022, 9.15 Uhr

Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 4,  2.12.2022, 9.15 Uhr

Lektüre, Analyse und Vergleich von drei zusammenfassenden Texten zum Reisen in Sachen Musik im 18. und 19. Jahrhundert:

(A) 1770: Charles Burney’s Reisen und musikalische Berichte

Auf das Gerücht hin, dort gäbe es etwas zu sehen und zu hören, ließ sich Charles Burney (1726–1814) von Florenz in das vierzig Kilometer südöstlich am Arno gelegene Figline chauffieren. Er fand »das Städtchen voller Landleute wie bei einem Landmarkte in England, allein wenig Kutschen und keine Leute vom Stande und Lebensart«. Um elf hörte der Italienreisende die Messe in der Hauptkirche und in dichtem Gedränge den »Abt Fibetti eine Motette mit einem außerordentlich feinen Geschmacke« singen sowie ein »niedliches Doppelkonzert«. Für die nachmittägliche Open-Air-Inszenierung eines geistlichen Schauspiels mit Unterstützung »alter Instrumente wie z.E. des Crotalon oder des Cybels« wurden »1.500 Bauern aus der Nachbarschaft beschäftigt, welche man drei Monate dazu vorbereitet hatte«, um bei David und Goliath als Israeliten und Philister gegeneinander zu marschieren, bis »David dem zu Boden geschleuderten Riesen den Kopf abhieb, viel Blut herausströmte, worüber eine Menge Zuschauer, die sich einbildeten, es sei das Blut des Menschen, der den Philister vorstellte, heftig erschraken«.

Auch wenn Burneys Hauptaugenmerk den Musikbibliotheken, Kompositionen und Aufführungspraktiken in den von ihm besuchten Städten und Ländern galt, sind seine Berichte eine ergiebige Quelle für das »Volksleben« im späten 18. Jahrhundert. Zum Schluss seiner Beobachtungen bei den Festivitäten in Figline hielt er fest: »Zum Ruhme der friedlichen Gesinnung der Toskaner muß ich bemerken, daß, ungeachtet hier wenigstens zwanzigtausend Leute bei dieser Gelegenheit versammlet und gar keine Wachen dabei waren, dennoch nicht der geringste widrige Vorfall oder Unordnung« zu vermelden war. Überhaupt sei ihm in ganz Italien kein einziger Betrunkener begegnet, was wohl auch damit zusammenhing, dass er sich eher bei Audienzen, in Kirchen und Theatern aufhielt als in Hafenvierteln.

Topographie der Hörvergnügungen

Vor seinem Aufbruch zum Kontinent »im Anfang des Monats Junius 1770« versicherte sich der 1726 geborene Musikhistoriker und Komponist einiger Vorzüge des Londoner Musiklebens: Er rühmte den ökonomischen Nutzen der Tonkunst nicht nur für deren Betreiber, sondern auch für »die wichtigen und menschenfreundlichen Zwecke«, z.B. die Unterstützung der Spendenakquisition für Witwen und Waisen der verschiedensten Berufsgruppen oder die Milderung der »Schmerzen der Gebärerinnen«. Im großen Ganzen folgte Burney dem schottischen Historiker Adam Ferguson, der resümierte, dass »der Fortschritt der schönen Künste zumeist Teil der Geschichte der wohlhabenden Nationen ist«. Peter Burke ergänzte: Dieser Fortschritt war zuerst in Italien zu beobachten, dann in den Hansestädten sowie den Niederlanden und erreichte von dort aus West-, Nord- und Osteuropa.

In Lille mokierte sich Burney über den Einsatz des Serpents bei Kirchenmusik. Paris war ihm nicht nur den Besuch mancher Messe wert, sondern veranlasste ihn auch zur Würdigung des Concert spirituel. Er versäumte nicht, die von Kardinal Mazarin gestiftete Bibliothek zu besuchen, sich über die auf Französisch nachgemachte italienische Oper zu ärgern und die Coffeehäuser am Boulevard im Vergnügungspark vor den Toren der Stadt zu besuchen. Dort hörte er »Musikanten und Sänger – wie die in Sadler’s Well zu London, aber noch schlechter. Die Sängerinnen gehen hier mit einem Teller herum und sammeln etwas für ihre Arbeit ein. Ungeachtet sie hier oft Arien à l’Italienne singen, so hängt ihnen in Ansehung des Ausdrucks die Erbsünde noch ebenso an als unsern englischen Sängern an dergleichen Orten« (ein gewisser Dünkel bleibt unüberhörbar).

Die Reise ging recht rasch weiter ins Land, wo die Zitronen blüh’n. Da zwar so gut wie alle denkmalwürdigen Gebäude, Statuen und Gemälde Italiens längst eingehend beschrieben worden seien, aber »der Konservatorien oder Musikschulen, der Opern und Oratorien kaum beiläufig erwähnt wird«, machte sich Burney daran, dies nachzuholen. Dabei verfolgte er den »Hauptzweck, eine Geschichte der Vergnügungen des Ohrs zu beschreiben«.

Vorzugsweise traf er sich mit Prominenten und interviewte sie – Grétry, Padre Martini, Jommelli, Metastasio, Hasse, Gluck, Vater und Sohn Mozart etc. Auf dem Land bei Genf will er das explizite Interesse des alten Voltaire erregt haben (»Mein Herz schlug mir beim Anblicke eines so außerordentlichen Mannes«), wohingegen er in Padua erst kurz nach dem »Leichendienst« für den »Teufelsgeiger« Tartini eintraf. Auch dort wurde er von gelehrten und praktizierenden Musikern minutiös ins Bild gesetzt. So ist die Nachwelt über die Höhe der Entlohnung des ersten Kastraten am Ort im Bilde (wenn denn die Gewährsleute zuverlässig referierten): Signor Gaetano Guadagni »bekommt jährlich 400 Dukaten, wofür er nur gehalten ist, an den vier Hauptfesten zu singen. Der erste Geiger hat ebenden Gehalt«.

In Venedig rühmte Burney nicht nur das respektable Niveau der »Conservatorios«, sondern die Straßenmusik auch außerhalb der Karnevalszeit, die in seinen Ohren so gut klang, »daß sie in jedem anderen Lande von Europa nicht allein Aufmerksamkeit erregt, sondern den Beifall würden gefunden haben, welchen sie billigerweise verdienten«. Hier wie in Bologna, Florenz, Rom, Neapel (und zuvor schon in Paris) reflektierte er nicht zuletzt Oper als Theaterpraxis, als »optisch und auditiv jenseits des Semantischen zu erfassendes Bühnengeschehen« (Michael Walter) und nicht primär – dem vorherrschenden Zug in der Publizistik seiner Zeit folgend – als »moralische Anstalt«.

Supremat der Musik

Der 1703 in London gestorbene französische Feldmarschall und Essayist Charles de Saint-Évremond hatte als Gewährsmann für die quasi selbstverständliche Arroganz gegenüber den Kulturen der Nachbarländer bezüglich der Gesangskünste resümiert: »Spanien schluchzt, Italien jammert, Deutschland brüllt, Flandern heult, nur Gallien singt«. Burney zeichnete ein sehr viel differenzierteres Bild in seinen Reportagen des Jahres 1770 und insbesondere auch mit den Berichten von einer zweiten großen Reise 1772/73 in die Niederlande, nach Deutschland und Österreich, wo das »Panorama unübersichtlicher als in Italien und Frankreich« war (Jürgen Mainka). Bezüglich der nationalen Überheblichkeit, zumal der »Langsamkeit in Begriffen und Handlungen« der Deutschen, wird man allerdings auch bei Charles Burney fündig.

Verwendete und weiterführende Literatur:

– Charles Burney, Tagebuch einer musikalischen Reise (1770), Neuausgabe Wilhelmshaven 1980; hier insbesondere S. 134–136, 22f., 33, 29, 21, 99, 49–51, 79, 81, 86 und 224.

– Jürgen Mainka, »Burney, Charles“, in: MGG2, PT, Bd. 3 (2000), Sp. 1319–1326.

– Peter Burke, Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung, München 1988, S. 11–14.

– Michael Walter, Oper – Geschichte einer Institution, Stuttgart 2016; hier insbesondere S. 380. 

– Tim Blanning, Triumph der Musik. Von Bach bis Bono, München 2014; hier insbesondere, S. 262.

Quelle: Frieder Reininghaus, Judith Kemp, Alexandra Ziane (Hg.): Musik und Gesellschaft. Marktplätze. Kampfzonen. Elysium, Königshausen & Neumann, Würzburg 2020, Bd. 1, S. 515–518.

(B) 1839: Reisen (von Sängerinnen im 19. Jahrhundert)

1839, also zu einem Zeitpunkt, an dem sich der Reisekomfort, die Reisezeit und die Gefahren­lage während einer Reise im Vergleich zum 17. und 18.Jahrhundert deutlich verbessert hatten, meinte ein Beobachter der italienischen Verhältnisse:

„Wenn die armen Sängerinnen einmal einem Impresario sich verschrieben haben, der in den meisten Fällen mehrere Bühnen auf einmal versorgt, so werden sie wie jede andere Waare be­trachtet, die man auf verschiedene Märkte sendet. Wie ein Kreuzfeuer geht es durch Italien, nach allen Spitzen der Windrose. Gewöhnlich gibt es in der Theaterwelt [ … ] vier Stagioni: Kar­nevale, Quaresima [Festenzeit], Primavera und Autunno. Kaum ist an einem Orte eine Saison zu Ende, so wird das Personal eingepackt und nebst Zubehör nach einer andern Stadt gesandt. Kaum daselbst angekommen, geht’s los. Die Mantelsäcke sind noch nicht geöffnet, die Hutschach­teln nicht losgebunden, so muß schon Probe gehalten werden. Und nun wieder eine Zeitlang unausgesezt vier bis fünf Vorstellungen in der Woche, die zahlreichen Proben daneben, und dann eine neue Reise in guter oder schlechter Jahrszeit, und dieselbe Historie von Anfang zu Ende. Man braucht sich nicht zu wundern, daß so viele Sängerinnen auf eine oder die ande­re Weise zu Grunde gehen: man sollte im Gegentheil sich wundern, daß manche diese Stra­patzen aushalten.“ (Morgenblatt für die gebildeten Leser 25./26.3.1839)

Die Impresari, die hier angesprochen werden, sind jene, die mit mehrjährigen Verträgen Sän­ger engagierten, um sie an allen Theatern, deren Impresa die Impresari hatten, einzusetzen. Aber natürlich mussten auch Sänger, die nicht bei solchen Impresari unter Vertrag standen, ständig reisen, weil sie bei fast jeder stagione das Opernhaus wechselten und bei einem ande­ren Impresario unter Vertrag standen. Im englischen System mussten wegen der vergleichswei­se langen season im 18. Jahrhundert zunächst Jahresverträge abgeschlossen werden. Die engli­schen Impresari waren infolge des Fanatismus des Publikums für italienische Sänger auf die aus Italien anreisenden Sänger angewiesen, die wiederum schon wegen der Reisekosten mög­lichst lange in London blieben. Im 19. Jahrhundert bezog man in London die Spitzensänger teilweise nicht mehr alle direkt aus Italien, sondern vom Pariser Théâtre Italien, was einen regelrechten jährlichen Pendelverkehr zwischen Paris und London auslöste. Dazu kamen die in London von anderen Regionen des Kontinents engagierten internationale Spitzensänger, z.B. jene von deutschen Hofopern, deren Anreisewege länger waren als die der Sänger aus Pa­ris. Französische Sänger in Paris waren, ebenso wie die Sänger an deutschen Hofopern, lang­fristig engagiert und reisten im 18. Jahrhundert nur in die französische Provinz, weil das von ih­nen gepflegte Repertoire außerhalb von Frankreich nicht gespielt wurde. Erst im 19. Jahrhun­dert kam es auch zu kurzfristigeren Engagements (obwohl ein- und mehrjährige Verträge die Regel blieben), weil mit dem Anschluss an das europäische Opernsystem durch die Gattung der grand opéra und die Popularität der opéra comique französische Sänger in Frankreich nicht mehr durch das Repertoire isoliert waren, was dazu führte, dass sie einerseits selbst reisten und andererseits in Paris zunehmend nicht-französische Sänger engagiert wurden, und sei es nur für kurze Gastspiele.

Die internationalen ‚Stars’ bereisten schon im 18. Jahrhundert ganz Europa, von Rom bis nach St. Petersburg und von Wien nach London. Eine Ausnahme bildete mangels Opernhäu­sern der größte Teil Osteuropas, wo allerdings spätestens seit dem 18. Jahrhundert mobile Truppen herumreisten. Im 19. Jahrhundert weitete sich der Reiseradius aus, weil immer mehr Sänger und Operntruppen seit den 1820er Jahren ihr Glück in Nordamerika, später dann auch in Südamerika suchten. Etwas schwächer war der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begin­nende ‚Zufluss’ amerikanischer Sänger nach Europa. Und im 20. Jahrhundert wurde die Opern­welt zunehmend zum globalen Dorf, in dem ein Opernstar heute in New York und wenige Tage später in Wien singt, um von dort zu seinem nächsten Auftritt nach Rom zu fliegen. Reisen war und ist für die meisten Sänger, deren Bedeutung mehr als eine lokale ist, eine Grundbedingung des Berufs. Dabei dürften die Sänger zu allen Zeiten, wie etwa Maria Malibran, wenig begeis­tert von den Beschwerlichkeiten des Reisens gewesen sein, die jedoch für den Erhalt hoher Ga­gen in kurzer Zeit in Kauf genommen werden mussten. Und vermutlich waren die Sänger auch wesentlich häufiger krank als wir heute wissen. Die europäischen Zeitungen berichteten sel­ten über die krankheitsbedingte Absage von Vorstellungen, aber ein amerikanischer Beobach­ter schrieb beispielsweise 1852 aus Dresden:

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich Glück oder Pech hatte, als ich hier die wichtigsten Sänger der Oper von St. Petersburg vorfand, die von ihrem Winter-Engagement in Russland zurückkom­men. Diese Leute scheinen immer von irgendeiner Indisposition geplagt zu werden [ … ]. An einem Abend war Pozzolini, der Tenor, krank – keine Oper; an einem anderen [Abend) Tarn­burini, der Bass, – wieder keine Oper; und zuletzt [Tacchinardi-]Persiani, der Sopran – schon wieder keine Oper.“ (Dwights’s Journal of Music 17.7.1852)

Das Reisen von Sängerinnen unterschied sich nur in einem Punkt von jenen der männlichen Sänger: Sängerinnen reisten bis zum Ersten Weltkrieg grundsätzlich nicht alleine, sondern im­mer in Begleitung. Wer mitreiste, richtete sich immer nach den Umständen: Schwester, Mut­ter, Bruder, Vater, Pflegevater, Tante, Gesangslehrerin, aber auch Freunde bzw. Lebenspart­ner oder Geliebte, manchmal sogar einfach nur gute Bekannte waren Reisebegleitungen von Sängerinnen. Als die junge Gemma Bellincioni im ausgehenden 19. Jahrhundert auf ihrer ers­ten Tournee in Spanien und Portugal war, reisten etliche Mütter von Sängerinnen und Ehegat­ten von »prime donne« mit (und in diesem Fall auch die Ehefrauen von Tenören und Baritonen). Henriette Sontag reiste auf einigen kürzeren Reisen mit Friedrich Beckmann, der damals noch nicht Hofschauspieler war, sondern 1824 am Königstädter Theater in Berlin für kleinere Rollen und als Garderobeinspector engagiert worden war. Maria Malibran reiste eine Zeit lang mit einer »Madarne Naldi«, einer Vertrauten, die bei ihr wohnte und auch Malibrans Geld verwal­tete. 1832 trennte sie sich von Naldi, als sie begann, mit dem Violinvirtuosen Charles-Auguste de Beriet zu reisen, ihrem späteren Mann. Giulia Grisi reiste mit Mario, mit dem sie auch of­fen zusammenlebte. In Düsseldorf machte sich im Januar 1843 »Mad. Ernst-Seydler, die für jugendliche Parthien unleidlich schien [ … ] mit ihrem Reisebegleiter, Herrn Gaudelius, plötzlich heimlich davon«. Pauline Lucca wurde auf ihrer Amerika-Tournee 1873 von Ihrer Mutter be­gleitet. Kathleen Howard wurde in ihrer Zeit in Europa von ihrer Schwester begleitet. Im Ge­gensatz zu Männern waren als Reisebegleitung bei Sängerinnen auch modische Tiere beliebt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehörte neben dem mitreisenden Ehemann auch ein Schoßhündchen schon fast zur ‚Standardausrüstung’. Die Reisebegleitungen der Frauen hatte vor allem eine Schutzfunktion vor Belästigungen auf der Reise, erfüllten aber auch organisato­rische Funktionen. Bei Männern und Frauen war, wenn sie es sich leisten konnten, die Mitnah­me mindestens eines Dieners (der häufig zugleich als Friseur fungierte) oder einer Magd üb­lich. Als Antoinette Saint-Huberty 1790 von Paris nach England reiste, wurde sie z.B. von einer Magd und zwei Dienern begleitet. Im ausgehenden 19. Jahrhundert ersetzte bei Sängern und Sängerinnen zunehmend ein Sekretär den Diener oder die Magd, oder er kam hinzu. Dieses Personal war auch ein Statussymbol. […]

Im Hinblick auf die Reisenden des Opernbetriebs bedarf die bei ‚Normalsterblichen’ bis ins 19. Jahrhundert hinein üblichste Art des Reisens keiner Betrachtung: die Reise zu Fuß. (Nur für den jungen Goldoni, den späteren Komödiendichter und Librettisten, war die Reise von Pavia nach Rom zu Fuß in Ermangelung von ausreichendem Reisegeld eine Option.) Sänger reisten wie Adelige mit den verfügbaren Verkehrsmitteln. Dennoch war Reisen im 17. und 18. Jahrhun­dert nicht nur beschwerlich, sondern auch zeitintensiv. Aber im 17. und 18. Jahrhundert hatten Reisende ein anderes Verhältnis zur Zeit als im 20. und 21. Jahrhundert, wie man schon dar­an erkennen kann, dass in Reiseführern und offiziellen Postdokumenten (also z.B. Verzeich­nissen der Posten, an denen man die Pferde wechseln konnte) nur selten die Rede von Reise­zeiten ist, aber immer von den Entfernungen, etwa von einem Posten zum nächsten, wohin­gegen man heute an Fahrpläne mit Abfahrts- oder Abflugzeiten und Ankunftszeiten gewöhnt ist, ohne dass man sich im Ernst über die zurückgelegte Strecke klar wäre. Die Kriterien ha­ben sich drastisch geändert: Heute interessieren Zeiten, im 18. Jahrhundert interessierten Stre­cken. Das hing auch damit zusammen, dass der größere Teil der Reisenden, nämlich Adelige, frei über ihre Zeit verfügen konnten. Diese freie Zeiteinteilung, die Nicht-Abhängigkeit von Zeiten, in denen einem Erwerb nachgegangen werden musste, war geradezu das Kennzeichen des Adels. Nicht weil sie über viel freie Zeit verfügten, sondern weil Reisezeiten oft unberechenbar sein konnten, wurde in italienischen Sängerverträgen (»scritture«) oder französischen Sänger­verträgen für Provinztheater im I9. Jahrhunderts oft ein Zeitraum von einigen Tagen festgehal­ten, innerhalb dessen sie am Theater, bei dem sie engagiert worden waren, einzutreffen hatten.

Die Reisenden planten ihre Reisezeiten individuell, ob mit dem Pferd, der normalen Post­kutsche oder der Extrapost. Das hing auch vom mitgeführten Gepäck ab. Ein eigenes Essbe­steck mitzunehmen war auch beim Reisen mit Pferden leicht möglich, eigenes Bettzeug und andere große Gepäckstücke mitzuführen erforderte aber auf jeden Fall eine Reise mit der Kut­sche oder mit zusätzlichen Packpferden. Bildungsreisende waren manchmal jahrelang unter­wegs, während Sänger wie andere Geschäftsleute an vergleichsweise kurzen Reisezeiten interessiert sein mussten. Dennoch darf man nicht außer Acht lassen, dass noch bis ins 20. Jahrhundert für die meisten Musiker jede Reise auch einen touristischen Nebenwert hatte. Noch Richard Strauss ließ auf seinen Reisen den Besuch keines Museums aus.

Quelle: Michael Walter, Oper – Geschichte einer Institution, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016, S. 37–40.

(C) 1854: Reiz der Karibik – Giovanni Bottesinis Abstecher

Das erste Drittel des 19. Jahrhunderts war für europäische Musiker von Geschmack und Gefühl von zwei prägenden Faktoren bestimmt: einerseits vom Wiener »Dreigestirn«, andererseits von Rossini. Zwischen diesen beiden Polen des Musiklebens ergaben sich mancherlei Facetten. Viele von ihnen sind, trotz der großen Mägen des Musikbetriebs, aus der Überlieferung herausgefallen. Dass es ein Virtuose, Dirigent und Komponist wie der aus einer Musikerfamilie in Crema bei Cremona stammende Giovanni Bottesini eher mit Rossini hielt, war naheliegend. Ab seinem fünften Lebensjahr erlernte er das Violin- und Bratschenspiel. Als 18jähriger verließ er 1839 – vielseitig, aber vornehmlich als Kontrabassist und Tonsetzer ausgebildet – mit besten Noten und einer Prämie das Mailänder Konservatorium. Für die 300 Lire, die ihm die Lehrer mit auf den Weg gaben, kaufte er einen dreisaitigen Kontrabass. Auf diesem Instrument, das er einen Ton höher als üblich stimmte, konzertierte er sein Leben lang: quer durch Europa von England bis Russland, von Norwegen, Schweden und Dänemark bis nach Spanien und Portugal. Auch in Nord- und Mittelamerika stand er im Rampenlicht. Die Literatur für seine virtuosen Auftritte und Einlagen schrieb er sich in der Regel selbst – nach dem Brauch der Zeit (und dem Muster Paganinis), wobei die technischen Optionen durch seine vier Konzerte für Kontrabass und Orchester erheblich erweitert wurden. Insbesondere das erste dieser Konzerte in fis-moll wird heute noch gelegentlich genutzt.

Rasch wurde Bottesini ein weltläufiger Mann und entwickelte eine beachtliche Produktivität: Für das Theater in Havanna, wohin er (zusammen mit Luigi Arditi) 1846 als Solobassist, Korrepetitor und Dirigent ging, schrieb er Cristoforo Colombo (oder Colón en Cuba). Auf der karibischen Insel hatte das Musikleben mit der 1814 in Havanna gegründeten Academia de Música und der von 1816 an mit ihr in Konkurrenz tretenden Academia de Música Santa Cecilia einen bedeutenden Aufschwung genommen: Komponisten wie Manuel Saumell Robredo und Ignacio Cervantes suchten einen nationalkubanischen Ton zu etablieren gegen den vorherrschenden Import italienischer und französischer Klaviermusik und Opern, an dem sich auch Bottesini mehrere Jahre lang erfolgreich beteiligte.

Nach Erfüllung seiner kubanischen Mission fuhr dieser noch etwas weiter nach Westen, erreichte über den Hafen Veracruz Mexiko. In der Hauptstadt des Landes bespielte Max Maratzeks reisende Operngesellschaft in der Saison 1852 das prächtige Teatro Principal, das an der Stelle des 1722 abgebrannten Teatro Coliseo errichtet worden war. In der übernächsten Saison konkurrierten zwei Compagnien um das lukrative Geschäft – die eine unter Leitung von Pedro Carvajal, die andere unter René Masson. Der hatte immerhin eine der berühmtesten Sängerinnen Europas aus Frankreich mitgebracht: Henriette Sontag aus Koblenz, die in Mexico für Sontagsfieber sorgen sollte, jedoch bereits am 16. Juni 1854 dort an hitzigem Fieber oder Cholera verstarb. Bottesini überlebte den Abstecher an den Fuß des Popocatépetl. Im Lauf des Jahres 1853 soll er beauftragt worden sein, Vorbereitungen für die Gründung eines staatlichen Konservatoriums in Mexico City zu treffen.

Bereits seit 1838 bestand dort eine von Agustín Caballero und Joaquín Beristaín gegründete private Academia. Diese bildete schließlich auch den Kern der nach einigem Hin und Her unter der Aufsicht der Sociedad Filarmónica Mexicana eingerichteten Hochschule. 1866 nahm sie den Lehrbetrieb auf und wurde elf Jahre später offiziell als Conservatorio Nacional de Música in staatliche Obhut überführt. Welche Rolle Bottesini im Prozess der Genese dieser Bildungsanstalt spielte (und warum er den Auftrag der Institutsgründung nicht wirklich ausführen konnte oder wollte), ist aus den offiziellen Annalen nicht mehr ersichtlich. Wenn es überhaupt stattfand, dann war sein musikpädagogisches Engagement jedenfalls von kurzer Dauer. Denn spätestens 1855 hatte sich der vielseitige Mann bereits wieder ganz und gar in Paris festgesetzt, übernahm zusammen mit Hector Berlioz die Leitung des Orchesters bei der Weltausstellung und schrieb dort u.a. L’assedio di Firenze für das Théâtre Italien (1856), das ihn auch als Dirigenten verpflichtete. 1862 brachte er in Palermo die Oper Marion Delorme heraus, 1871 am Lyceum Theatre in London Alì Babà. Im selben Jahr ließ er sich dann nach Ägypten anwerben. In seine Zeit als Dirigent am Opernhaus in Kairo – bis 1877 – fällt die von ihm geleitete Uraufführung der Aida von Giuseppe Verdi. Der empfahl, als er 1879 in Turin Bottesinis Ero e Leandro (nach einem Libretto von Arrigo Boito) und im Jahr darauf dort auch La regina del Nepal herausgebracht hatte, den inzwischen 58jährigen Kollegen für den Posten des Konservatoriumsdirektors in Parma. Doch keine sechs Monate nach Amtsantritt starb dieser dort nach einem außerordentlich erfüllten Leben. Beerdigt wurde der Ritter vom tiefen E unmittelbar neben dem »Teufelsgeiger« Niccolò Paganini.

Verwendete und weiterführende Literatur:

– Luigi Inzaghi u.a. (Hg.), Giovanni Bottesini: Virtuoso del contrabbasso e compositore, Milano/Mailand 1989.

– Alfred Planyavsky/Herbert Seifert, Geschichte des Kontrabasses, Tutzing 1984.

Quelle: Frieder Reininghaus, Judith Kemp, Alexandra Ziane (Hg.): Musik und Gesellschaft. Marktplätze. Kampfzonen. Elysium, Königshausen & Neumann, Würzburg 2020, Bd. 2, S. 65–67.

Aufgabenstellung:

Fassen Sie bitte in Stichworte, die Sie bitte schriftlich fixieren:

  1. Analyse der Text-Inhalte:

– Welche Regionen geraten ins Blickfeld der Texte (A) zu Burney, (B) zu den Sänger*innen und (C) zu Bottesini?

– Welche Motivationen bestimmten die verschiedenen Formen der Reisen und wirkten sie sich auf die Reiseverläufe aus?

– Schlagen sich zeit- und sozialgeschichtlichen Aspekte in den Texten nieder und wenn ja, wie?

  1. Vergleich der Form und der Schreib-, Darstellungs- bzw. Deutungsstile:

– Aus welchen Blickwinkeln wird das Reisen wahrgenommen und geschildert?

– Wie beurteilen Sie den Anteil belletristischer Komponenten bzw. dessen Vermeidung zugunsten sachtextlicher „Nüchternheit“?

– Fühlen Sie sich jeweils gut / hinreichend / ungenügend informiert oder mit Detailinformationen überbeansprucht?

– Stellte sich ein gewisses Lesevergnügen oder Verdruss bei der Lektüre ein?

 

Zur Diskussion gestellt:

Ästhetische Verdikte

Unter den ältesten zivilisatorischen Errungenschaften findet sich das Urteil – der „Wahrspruch, den der Richter erteilt“. Indem Normenverletzungen nicht mehr blindlings gerächt wurden, bildete sich mit geordneter Herrschaft Strafrecht heraus. Mit ihm eröffnete sich den Angeklagten ggf. die Möglichkeit zu Rechtfertigung und Gnadengesuch. Indem die Horden dann sesshaft wurden, entwickelten sich Schlichtungsverfahren für Streitigkeiten um Nutzung von Land und Ressourcen, Eigentum und Erbe, Ehre oder Unterhaltsforderungen – daraus erwuchs Zivilrecht. Bis heute ist es den verschieden Modellen zur Regulierung des rechtsförmig gerahmten menschlichen Zusammenlebens allerdings nur bedingt gelungen, das, was subjektiv als Benachteiligung, Demütigung und ärgerlich empfunden wird, aus der Welt schaffen. Weshalb von Zeit zu Zeit der Wille zur Korrektur sich unflätig oder gewaltsam entlädt (vor allem, wenn die zuvor Privilegierten zu lange harthörig blieben). Das Jahr 2011 hat in dieser Hinsicht an der Gegenküste des Mittelmeers Lektionen erteilt (im Zuge der „Arabellion“). Auch „die Geschichte“ verhängt Verdikte.

Recht aufschlussreich erscheint, dass noch vor den frühsten Erwähnungen von juristischen Urteilen bereits das Problem einer ästhetischen Entscheidungsfindung auftaucht. Der Präzedenzfall ereilte einen schwererziehbaren Sohn des trojanischen Königs Priamos, der hinsichtlich einer Meinungsverschiedenheit in der Götteretage zum Schiedsrichter auserkoren wurde. Drei möglicherweise nur bedingt korrekt gekleidete Damen aus dem Zentrum der Macht – die mit robustem Mandat ausgestatte Chefgattin Hera, die kühl-rational-schnippisch-jungfräulich auftrumpfende Athene und die für entscheidende Dimensionen des Glücks zuständige Aphrodite – nötigten den Prinzen unter Einsatz weitgehender Versprechungen zur Festlegung der delikatesten Art: welcher von ihnen der bei der Hochzeit von Peleus und Thetis in die Göttinnen-Runde geworfene goldene Apfel mit der Aufschrift kallistá zustehe („Der Schönsten“).

Tatsächlich hatte der leichtfertige Paris versäumt, seinen Kant zu lesen; war sich daher nicht gewärtig, dass „das Geschmacksurteil kein Erkenntnisurteil (weder ein theoretisches noch praktisches), und daher auch nicht auf Begriffe gegründet, oder auch auf solche abgezweckt“ ist (Kritik der ästhetischen Urteilskraft, § 5). Er zog die Möglichkeit nicht in Erwägung, sich für begriffsstutzig oder unzuständig zu erklären – zum letztendlichen Nachteil seiner Vaterstadt und seines eigenen. Die von seiner Entscheidung für das Venus-Primat und „die Liebe der schönsten Frau“ zurückgesetzten Rivalinnen rächten sich. Wie seitdem üblich bei öffentlichen ästhetischen Urteilen (die heute bevorzugt in der besonders korrupten Kunstgestalt der Evaluierung erscheinen), war auch beim allerersten Ranking keine Berufungsinstanz vorgesehen. Überhaupt spielte zu viel unbändig Subjektives mit. Nicht zuletzt die Vorteilsnahme.

Ernsthaft lässt sich nicht bestreiten, dass auch die drei Kritiker-Generation am Anfang des 21. Jahrhunderts – die „älteren Pharaonen“, die anpassungsfähigen Moderatoren in der Mitte und die jung-smarten MusikreisebegleiterInnen – hinsichtlich der Verbandelung mit Karriereambitionen, Machtinteressen, Bandenbildung und größeren oder kleineren Geldflüssen im real existierenden Betrieb fest und unverbrüchlich auf den Schultern der Altvorderen stehen. Ästhetischen Urteilen wird fürderhin mit kurzen Wegen bei der Vergabe lukrativerer Schreibaufträge nachgeholfen, mit geldwerten Vorteilen (wie Bezahlung von Übernachtungs- und Reisekosten bis nach China oder Kurdistan), mit ein bisschen Teilhabe am „Puls der Tonkunst“ und am Glanz des Theaters. Manche persönliche Bekanntschaft ist da hilfreich, Loyalitäten zahlen sich bei der Besetzung einer der raren Stellen aus. Selbst entfernte verwandtschaftliche Beziehungen können ein Lob um ein paar Dezibel anheben oder einen fälligen Tadel abdämpfen – nicht nur in Italien, Frankreich oder Ungarn. Das alles ist die Regel, gerade auch im „Qualitätsjournalismus“ und im (halb-)staatlichen Rundfunk. Und nicht nur in den Redaktionen für „Auto und Motor“.

Ist es jedoch nicht eine vertrackte Sache mit dem Urteil und dessen Spätfolgen, an die bei Abfassung nur die gewieftesten Taktiker denken? Prinz Paris, der in den vorübergehenden Genuss der (bereits mit König Menelaos verheirateten) schönen Helena kam, wäre dem Unheil übrigens auch nicht entkommen, wenn er eine Ziege am Wegesrand prämiert hätte. In diesem Fall hätte der Prinz vielleicht den reisenden Stegreif-Poeten und den Bänkelsängern, diesen Vorläufern der Radiomacher und TV-Comedians, eine kurze Freude bereitet, aber doch auch den Zorn der Aphrodite und der „schönsten Frau“ (Helena) auf sich gezogen (also: ggf. ebenfalls Höchststrafe).

„Es kann keine objektive Geschmacksregel, welche durch Begriffe bestimmte, was schön sei, geben“ (Kant, § 17). Dennoch haben die Ästhetiker, die den Betrieb begleitenden Berichterstatter und Kritiker in der Ära der Aufklärung wie dann insbesondere auch im 19. Jahrhundert, in dem der Musikmarkt so gewaltig expandierte, beharrlich versucht, das Geschmacksurteil nach besten Kräften objektiv zu fundieren. Sie haben im Extremfall hierzu sogar den „Weltgeist“ bemüht. Johann Mattheson (1681–1764) fand Kategorien dank seines kaufmännisch geschulten Positivismus und Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791) vermittels ungebärdig-kritischer Beobachtung des Musiklebens seiner Zeit. Der Sammler Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795) entwickelte die obsessive Annahme, auch in res musicae ließe sich Wahrheit und Irrtum, Lüge bzw. Falschheit „beweisen“. Immerhin öffnete dieser preußische Ordnungsgeist den Juristen die Vordertüren zu den Kritikerbänken: dem Multitalent E.Th.A. Hoffmann (1776–1822), dem Beethoven-Apologeten Adolf Bernhard Marx (1795–1866) und Eduard Hanslick (1825–1904), mit dem das Musikrichterwesens aus dem Geist des Musikalisch-Schönen und das selbstgerechte Kunsturteil seinen Zenith erreichte.

Letztendlich erfolgreich bäumte sich Richard Wagner gegen Hanslick und die „konservierenden, restaurationssüchtigen“ Urteile über Musik auf (gegen das „Stöhnen der Impotenz und Feigheit“). Bereits 1852 beschrieb er stellvertretend für die Komponistengilde die „bedürfnisvolle Stellung zur Kritik“ (also den Willen, als zutreffend und „gerecht“ empfundene Urteile anzuerkennen). Auch Bertolt Brecht ging von einer Bedürftigkeit des Künstlers aus, die mit pädagogischem Geschick befriedigt werden solle: „Die Kritik muss den Künstler unter Berücksichtigung des Materials, das ihm zu Verfügung steht, zwingen, aus diesem Material so viel zu ma­chen, als er kann.“ Im übrigen rechnete Brecht bereits 1920 den Beruf der Kritiker zu den therapeutischen: „Es ist die Unverschämtheit der Unfähigkeit, der Kritik bloße ‚Berichterstatterdienste’ zuzu­muten. Man heilt den Hustenden nicht dadurch, dass man ihm den Mund zu­bindet.“ (Schriften zum Theater, Frankfurt/Main 1964, Bd. I, S. 44f.). So mag es dann kommen, dass ästhetische Urteile außer Empfehlungscharakter auch die Funktion von Hustenbonbons oder Blitzableitern annehmen können und – im glücklichsten Fall – „Botenstoffe für die Zukunft“ enthalten.

Quelle: ÖMZ 6/2011 Das andere Lexikon, S. 106f.

 

Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 3

Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 3,  18.11.2022, 9.15 Uhr

 

Fünf 5 Texte im Vergleich

Richard Wagner, Tristan und Isolde bei den Bayreuther Festspielen 20 22,inszeniert von Roland Schwab, dirigiert von Markus Poschner

Textanalyse und -vergleich am Beispiel von fünf Texten aus dem seriösen bzw. öffentlich-rechtlichen Journalismus der Bundesrepublik Deutschland.

Aufgabenstellung:

Bitte beantworten Sie die folgenden zwölf Fragen jeweils für alle fünf Rezensionen:

  1. Informieren die einzelnen Rezensionen (anschaulich und allgemein verständlich oder nur partiell und kaum bzw. unverständlich) über die Bühnengestaltung und das Bühnengeschehen?
  2. Wie (und adressiert an wen) beschreiben die einzelnen Rezensionen die Leistung des ad hoc zusammengestellten „Festspielorchesters“ und des kurzfristig eingesprungenen Dirigenten? Wie die des singenden Personals (inklusive des Chors)? Wie (unterschiedlich) ausführlich, wie systematisch und in welcher Weise wertend?
  3. Gibt es durchgängige Übereinstimmungen im Urteilstenor oder auffällige Unterschiede?
  4. Artikulieren die einzelnen Rezensionen bestimmte Erwartungen an den Event – z.B. vor dem Hintergrund bestimmter „Traditionen“, Gewohnheiten oder ortsüblicher Bräuche, bezüglich der Stilhöhe bzw. einer unterstellten „Angemessenheit“ oder des Unterhaltungswerts? Und wenn ja, welche?
  5. Welche Schwerpunkte setzen die einzelnen Rezensent*Innen? Wirken sich die in den einzelnen Medien vorgegebenen „Formate“ auf Form und Inhalt der Texte aus und wenn ja: gehen Sie davon aus, dass offensichtlich bestehende Vorgaben der Medieninstitutionen bzw. der in diesen Weisungsbefugten einen steuernden Einfluss haben?
  6. Äußern sich die einzelnen Rezensent*Innen grundsätzlich zum Komponisten, zu „Tristan und Isolde“ bzw. der Rezeptionsgeschichte der Sage, ihrer literarischen Verarbeitung und der Rezeptionsgeschichte?
  7. Formulieren einzelne Rezensent*Innen Erwartungen hinsichtlich der weiteren Nutzung(smöglichkeiten) der besprochenen Produktion?
  8. Nehmen die einzelnen Rezensionen die Produktion zum Anlass, Erwartungen hinsichtlich der künftigen Gestaltung der Festspiele und deren Leitungspersonal zu formulieren?
  9. Wie haben Ihnen die einzelnen Rezensionen persönlich gefallen?
  10. Fanden Sie etwas/manches/vieles a) brillant, interessant, bedeutsam bzw. faszinierend oder b) uninteressant, nichtssagend, unnötig oder abstoßend?
  11. Haben Sie den Eindruck, dass Sie von einzelnen der Rezensionen (oder allen) etwas lernen könnten?
  12. Wenn Sie selbst Rezensionen schreiben wollten/sollten: a) Reizt es Sie, etwas methodisch zu adaptieren? Und wen ja: was? b) Was würden Sie möglicherweise/unbedingt vermeiden?

1. Ein regionaler Rundfunkbericht:

Bayreuther Festspiele

Eröffnung mit „Tristan und Isolde“

Diesen Montag war sie endlich: die feierliche Eröffnung der Bayreuther Festspiele. Auf dem Spielplan stand eine Neuinszenierung der Oper „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner, inszeniert von Roland Schwab. Aufgrund vieler Erkrankungen gab es einen Wechsel in der musikalischen Leitung. Letztendlich stand Dirigent Markus Poschner am Pult mit nur zwei Proben. So war das Ergebnis.

Zu Beginn plätschert das Wasser noch friedlich im ovalen Pool des Luxusliners, der Isolde zu ihrem künftigen Gatten König Marke nach Cornwall bringen soll. Doch zunehmend kommt Leben in das Nass. Blutrote Schlieren durchziehen das Wasser, die immer schwärzer werden. Auch der erst blaue, zart bewölkte Himmel oben drüber wird bedrohlicher. Und als Tristan und Isolde den berühmten Trank runterstürzen, wird daraus plötzlich ein wilder Strudel. Die Liebenden geraten buchstäblich ins Auge eines Taifuns, werden mitgerissen in eine entrückte Metawelt der Leidenschaft und der Sehnsucht. Diese ovale Fläche von Bühnenbildner Piero Vinciguerra ist Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung. Durch raffinierte Projektionen wird sie zu einer Art Raumschiff für die Titelfiguren, das sie in andere Welten entführt.

Starke Bilder in der Inszenierung von Roland Schwab

Die Sehnsucht des Publikums wollte Regisseur Roland Schwab ansprechen, es mit poetischen Bildern verführen. Und diesem Vorsatz kommt er nach. Tatsächlich brennen sich manche Bilder ein. Wenn beispielsweise oberhalb der ovalen Fläche ein glückliches Liebespaar, das sich in verschiedenen Altersstufen durch die ganze Inszenierung zieht, eine Art Gegenpol zu den ekstatisch und verzweifelt Liebenden bildet. Oder wenn Kurwenal im dritten Aufzug partout nicht zu Tristan auf die schillernde, lebendige Fläche will und vielmehr den Freund mittels eines Seils in seine, die reale Welt, zurückziehen möchte. Oder wenn die weißen Kostüme von Tristan und Isolde in der Liebesnacht erst auf eine transzendentale Parallelwelt der Glückseligkeit hinweisen, und dann durch einen krassen Lichtwechsel nach der Ankunft Markes von einer Sekunde auf die andere wie Kittel von Patienten einer Psychiatrie wirken. Das hat Kraft und Schönheit.

Textverständlichkeit bei Wagner-Opern ist ein Muss – daran mangelt es

Leider erschöpfen sich diese Bilder-Installationen schnell auch zu bloßem Ästhetizismus. Auch da die Sänger über weite Strecken in Sachen Personenregie völlig alleine gelassen sind, gibt es mitunter starken Leerlauf. Manche Szenen – wie ein älteres Paar, das am Ende herzig Händchen hält – streifen gefährlich die Grenze zum Kitsch. Dass das Musikdrama auf der Strecke bleibt, liegt auch daran, dass die Textverständlichkeit zu wünschen übrig lässt – Ausnahmen bilden der einmal mehr gloriose Georg Zeppenfeld als Marke und Markus Eiche als stimmschöner, geschmackssicherer und kerniger Kurwenal. Ekaterina Gubanova bleibt als Brangäne leider ziemlich blass. Die Stimme von Stephen Gould ist nach wie vor beeindruckend. Auch in den Fieberwehen muss man nie Angst um ihn haben – er muss sie nicht aus dem Leiden entwickeln, sondern meistert sie potent. Was aber fehlt, sind die lyrischen Zwischentöne des Tristan.

Es fehlen die musikalischen Wow-Momente

Catherine Foster startet fulminant: mit runden, wuchtigen Tönen ist sie im ersten Aufzug in jedem Zoll stolze Königstochter, deren Schmerz aber genauso glaubwürdig ist. Leider schleichen sich bei fortgeschrittenem Abend immer wieder Intonationstrübungen ein. Auch deshalb fehlen diesem Tristan “Wow-Momente”, wie “O sink hernieder Nacht der Liebe” oder der Liebestod. Stellen, die Gänsehaut bereiten und einen teilhaben lassen am sich verzehrenden Rausch. Beeindruckend ist, wie Dirigent Markus Poschner auch als Einspringer das Risiko sucht, an dynamische Grenzen geht und mit dem Bayreuther Festspielorchester den symphonischen Wert der Partitur erlebbar macht. Und vielleicht stellt sich das besondere Tristan-Prickeln im Laufe der Vorstellungen ja noch ein. Das Publikum war schon bei der Premiere enthusiastisch und feierte die Beteiligten frenetisch.

 

2. Eine ausführliche Online-Rezension:

Wie Leidenschaft zum Bild wird – Umjubelter „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen 2022

Es gehört im Grund dazu, dass es im Vorfeld der Bayreuther Festspiele irgendwas Skandalträchtiges zu berichten gibt. Viele Jahre sorgte die Familie des Komponisten selbst dafür. Doch auch, seit auf dem Grünen Hügel die Zuständigkeiten klar sind und Katharina Wagner das Unternehmen erfolgreich und beherzt führt, kann man darauf wetten, das irgendwas passiert.

Diesmal gab es kurz vor Festspielbeginn Sexismusvorwürfe. Wer, wann, wem, wie zu nahegetreten ist, gegrapscht hat oder ein paar Sms oder Mails zu viel geschickt hat, weiß man noch nicht so genau – bislang sind alle Quellen anonym. Und weil der sich mit seinem Berliner Mundwerk gut dazu eignet, bekam Christian Thielemann auch gleich noch ein paar Ruppigkeitsvorwürfe ab. In einem raunenden Beitrag der „Zeit“ war das so ähnlich, da ging es bei solchen Vorwürfen vor allem um eine miese Stimmung auf dem Grünen Hügel. Was kann man dem schon entgegensetzten, außer Grundsätzliches und Selbstverständlichkeiten in Sachen Aufklärungsversprechen? Für Schlagzeilen reichte es allemal.

Natürlich mischt das leidige Virus freilich kräftig mit. Zum Glück nicht gleich so, dass es die gesamten Festspiele kippte oder auf einen Rest schrumpfte, wie in den beiden vorigen Jahren. Zu unmittelbaren Folgen führte diverse Einschläge allerdings schon vor dem Festspielstart.

Auch mit Blick auf die mit der Pandemie verbundenen Planungs-Unwägbarkeiten, hatte Katharina vor den nachgeholten Premieren-Vierer mit dem neuen Nibelungenring zusätzlich (und erstmalig in einem Ringjahr) einen neuen Tristan ins Programm genommen. Chorarm, wie der im Unterschied zu Tannhäuser, Lohengrin und Holländer nunmal ist, sind da keine massenhaften Ausfälle zu befürchten bzw. könnte man hier den kurzen Chorauftritt auch zuspielen. Ein kurzentschlossener Tristan also zur Sicherheit. Das dafür engagierte Gespann Roland Schwab (Regie) und Cornelius Meister (Dirigent) wusste vor einem reichlichen halben Jahr noch nichts davon. Als die Hiobsbotschaft kam, dass der vorgesehene Ringdirigent Inkinen erkrankt ausfällt, wechselte Cornelius Meister kurzerhand zum Ring. Für Tristan holten man Markus Poschner ins Boot. Gerade mal zwei Proben mit dem Orchester blieben ihm bis zur Premiere. Wobei dieses Orchester natürlich schon per Definition einen Tristan drauf hat. Und doch bleibt Spielraum für Scheitern oder Extrajubel.

Leidenschaften, diesseitig

Poschner wurde für seine mutige Flexibilität, vor allem aber für das Resultat bejubelt. Es war kein narkotisierender Verführungsversuch a la Thielemann. Hier loderten die Leidenschaften eher diesseitig, beherzt aber auch mal wie ins Nichts verhaucht. Immer fein abgestimmt mit den Sängern. Und die lieferten Festspielniveau. Catherine Foster (die Brünnhilde aus dem Castorf-Ring hat beim Bayreuthpublikum eine Fangemeinde!) lässt ihre Stimme in voller Pracht von der Leine – macht besonders aus dem ersten Aufzug ein Isoldeerlebnis mit Wow-Effekt. Auch der tristanerfaherene Stephen Gould wirkte freier als in der Vorgängerinszenierung der Hausherrin, lieferte einen Tristan ganz bei sich und seinen immer noch beträchtlichen Fähigkeiten. Auch als Tristan im dritten Akt im Sterben lag, hatte man nicht einen Augenblick die Sorge, dass dieser Sänger (der ja auch noch im Ring und im Tannhäuser eine tragende Rolle spielt) die Zielgerade nicht erreicht.

Dazu die sich im Timbre deutlich von Isolde abhebende Brangäne Ekaterina Gubanova und der prägnante und (durchweg) textverständliche Kurwenal von Markus Eiche. Wie erwartet ist Georg Zeppenfeld die sichere Marke-Bank schlechthin, zumal er diesmal auch nicht den Fiesling geben muss, wie in Katherinas Inszenierung. Dass man bei Zeppenfeld und Eiche jedes Wort versteht, liegt an deren Format, aber natürlich auch an ihren Partien. Dass es die Interpreten von Isolde, Tristan, und Brangäne da deutlich schwerer haben, aber auch. Es gab in der letzten Zeit zwar tatsächlich Isolden, bei denen man jedes Wort verstanden hat – allerdings konnte man da auch mitlesen. (Damit das nicht anonym bleibt: bei Stephanie Müther in Chemnitz war das exemplarisch so.)

Musikalisch war dieser Tristan jedenfalls beim Publikum, dass den gleichen Extremtemperaturen im Festspielhaus ausgesetzt war wie die Sänger, ein voller Erfolg. Im vollbesetzten Haus musste es allerdings auch nur zuhören und darauf achten, dass nicht das Handy auf den Holzboden fällt. Was nicht jedem gelang …

Über ungeteilte Zustimmung konnten sich aber auch Roland Schwab, Piero Vinciguerra (Bühne) und Gabriele Rupprecht (Kostüme) freuen. Schwab versucht mit seiner Deutung Wagners „Löse von der Welt mich los“ erfahrbar zu machen und auf diese Welt zurück zu reflektieren. Wenn Tristan und Isolde am Ende beide im Tode vereint sind, kommt ein altgewordenes Paar langsam an die Rampe. Es ist ein tröstlicher Philemon-und-Baucis-Moment. Schon während des Vorspiels haben wir die beiden als junges Paar gesehen und auch danach tauchen sie, etwas älter geworden, noch einmal auf. Liebe ist auch im Leben möglich, so die Botschaft einer Bildersprache, in der die Leidenschaft zum Bild wird.

Atemberaubende Bilder

Die Bühne ist ein halbrunder begrenzter Raum. In der Decke und im Boden geben ovale Ausschnitte den Blick in den Himmel und in die Tiefe brodelnder Leidenschaften frei. Die Videos (Luis August Krawen) sind hier keine Wirklichkeitssimulation, sondern Teil der Bühne. Anfangs tigert Isolde wie eine Gefangene kurz vor der Explosion um den mit noblen Liegestühlen eingerahmten Pool. Der beginnt sich blutrot zu färben. Wenn der Liebestrank aber wirkt und Tristan und Isolde gleichsam übers Wasser zu gehen lernen, dann wandelt er sich in einen Strudel (der Leidenschaft), der die beiden zueinander und in einen Abgrund zieht. Das ist ein atemberaubendes Bild. Im Zweiten Aufzug ist es das Sternenfirmament, das sich zu spiegeln scheint. Die sind losgelöst von der Welt. Dass die große Liebesszene bei der die Sterne tanzen, zum Tribunal wird, bei dem Tristan in der Mitte auf einem Verhörstuhl sitzt und Melot Isolde mit einem der Scheinwerfer traktiert (wobei man sich fragt, ob der tatsächlich flackern sollte, nachdem alle anderen ausgeschaltet worden waren), erreicht die beiden nicht wirklich. Grandios das Bild wie der metaphorische feindliche Tag in Form einer Batterie von gleißenden Neonröhren langsam auf Tristan niedergeht und ihn (ohne, dass Melot seine Waffe zücken muss) tödlich verletzt. Im dritten Aufzug dann – ein Bild aus der Rubrik „schöner Sterben“. Trauerweiden wuchern jetzt herunter, Tristan liegt wie aufgebahrt zwischen Kerzen. In weißer Kluft, so wie dann auch Isolde. Am Ende trauert auch der König sichtbar. Möglicherweise mehr um Tristan als um Isolde. Vor deren Weltflucht senkt sich ein transparenter Schleier, durch den eine Utopie schimmert, die die beiden Alten vor diesem Vorhang trotzig in ein „Liebe ist auch auf Erden möglich“ quasi übersetzen. Ewig…. stand die ganze Zeit als rätselhafter Schriftzug neben der Szene …

3. Ein Wochenmagazin:

Die Musik sagt ja alles

Große Gefühle und kleine Gefühligkeiten: „Tristan und Isolde“ als erstaunlicher Lückenfüller in Bayreuth.

Das Beste wäre wohl, wenn diese Produktion nicht allzu viele Zuschauer erlebte. Nicht weil sie schlecht wäre, im Gegenteil. Aber die Neuinszenierung von Tristan und Isolde ist der Corona-Joker im diesjährigen Bayreuther Spielplan. Fällt eine andere Vorstellung aus, weil sich einer der Beteiligten infiziert hat, wird Tristan eingewechselt; bleiben alle gesund, und das ist natürlich zu hoffen, gibt es diesen Sommer nur eine weitere Vorstellung sowie zwei im nächsten Jahr (für 2024 ist dann schon die nächste Tristan-Neuinszenierung vorgesehen). Auch in anderer Hinsicht ist dieser Tristan ein Ausnahmefall: Das Regieteam um Roland Schwab war erst im Dezember beauftragt worden, legte seine Konzeption buchstäblich über Nacht vor und wurde dann irgendwie in den ohnehin eng gestrickten Probenplan gezwängt. Wenige Tage vor der Premiere wechselte zudem noch der Dirigent: Der eigentlich vorgesehene Cornelius Meister rückte an die Stelle des an Corona erkrankten Ring-Dirigenten Pietari Inkinen und wurde seinerseits durch den Bayreuth-Einspringer Markus Poschner ersetzt.

Es gäbe also eine Menge Gründe, mit denen sich eine missratene oder auch nur leicht windschief zusammengenagelte Premiere entschuldigen ließe. Aber was sagt es über die Bayreuther Routinen aus, dass nun ausgerechnet dieser Ausnahme-Tristan zu den interessanteren Produktionen gehört, die dort zuletzt zu sehen waren?

Das liegt natürlich auch an der Besetzung. Stephen Gould, der diesen Sommer außerdem noch als Tannhäuser und Siegfried besetzt ist, spult die Partie des Tristan routiniert und bis in die Schlusstakte hinein mühelos ab. Catherine Foster hat einen sehr guten Abend als Isolde, wobei sie im Schlussgesang mitunter einen Viertelton zu tief liegt. Ekaterina Gubanova glänzt als Brangäne, Markus Eiche als Kurwenal und Georg Zeppenfeld als König Marke.

 

4. Ein überregionales Radioprogramm:

Paare und Passanten im Videogeflimmer

Mit Richard Wagners Liebesdrama „Tristan und Isolde“ eröffnen die Bayreuther Festspiele. Das Publikum feiert Roland Schwabs Inszenierung. Doch unsere Kritiker*In ist enttäuscht von viel Dekor und verbrauchten Gesten.

Nimmt man die Publikumsreaktionen als Maßstab, so war dies möglicherweise die beste Premiere der Saison. Nach jedem Aufzug herrschte Jubel, Trubel und Fußgetrampel. Am Ende gab es kein Halten mehr, noch in die letzten Töne hinein begann das Klatschen.

Wer ganz genau hinhörte, erkannte vielleicht einige wenige Buhs für den Tristan-Tenor Stephen Gould, aber es waren möglicherweise nur missverstandene Jubelrufe. Handelt es tatsächlich bei dieser Bayreuther Festspieleröffnung um eine Sensation?

Solide Stimmen, verschliffene Texte

Eher weniger. Geboten wird eine Sängerbesetzung, die im Großen und Ganzen solide ist. Erwähnter Stephen Gould schmettert eindrucksvoll eindringliche Kantilenen, die oft messerscharf beginnen und manchmal wabbelig-tremolierend enden.

Catherine Foster verkörpert eine vokal wie gestisch fast ständig unter Starkstrom stehende Isolde, mit einschlägigen Trompetentönen, die leider öfters ins Scharfe oder – freundlicher formuliert – Überakzentuierte gehen. Den Text versteht man praktisch nicht, wie solch gestandenen Künstlern plötzlich ihre Gabe zu deutlicher deutscher Diktion abhandengekommen ist, bleibt ein Rätsel.

Die kleinen, feinen Partien sind exzellent besetzt, vor allem mit Georg Zeppenfeld als König Marke und Markus Eiche als Kurwenal. Was dem recht kurzfristig eingesprungenen Dirigenten Markus Poschner gelingt, ist eine sehr gute Verzahnung zwischen Graben und Bühne.

Es ist ein Sturm-und-Drang-Konzept, das Poschner da umsetzt und auch Regisseur Roland Schwab zeigt viel Aufgepeitschtes im Innenleben der Protagonisten. Nur verliert sich die Inszenierung leider häufig im Händeringen und verzweifelt am Bodenliegen oder Augenrollen – muffige Standardgesten aus alten, schlechten Opernzeiten.

Wellen, Blut und weißes Rauschen

Hinzu kommt eine über drei Aufzüge hinweg dann doch nervende Bühne (Piero Vinciguerra). Oben sind Wolkenprojektionen oder ein Sternenhimmel, unten sieht man Wasser, Wellen, Blut, sich drehende Kreisel, weißes Rauschen – je nach Stimmung und Situation im Stück. Das bleibt alles Dekor und wirkt in seiner einhämmernden Wiederholung unangenehm aufdringlich.

Schaulaufen der Prominenz

Dies mag als Hoffnungsschimmer zu deuten sein, es gibt eben auch Paare, deren Liebe bis ins hohe Alter hält. Allerdings, und gerade davon erzählt ja Wagners Oper, für Tristan und Isolde gilt das nun gerade nicht. So bleibt dieser Bayreuther Auftakt eine eher mittelmäßige Angelegenheit mit ein paar schönen Momenten, keinerlei Provokationspotential, wenig Denkaufgaben.

Eine leichte Spannung gab es indes, als der bayerische Ministerpräsident Markus Söder nebst Gattin ins Blitzlichtgewitter der Adabei-Presse tauchen wollte und ausgerechnet in diesem Moment die Gottschalks erschienen. Und schwupps waren die Kameras auf den unverwüstlichen Entertainer und seine Frau gerichtet. Allen vieren hat der Abend übrigens, wie später zu hören war, außerordentlich gut gefallen. Na denn!

 

5. Ein überregionales Feuilleton:

Schwimmen im gestürzten All

Staunend, träumend, zart: „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen

Während Hunde und Katzen ihr Revier chemisch markieren, bevorzugt der Eventkonsument die akustische Variante, um zu zeigen: „Hier bin ich, das ist meins.“ Die Männer, zumeist Grobmoto­riker, schießen Wasserflaschen oder ein­geschmuggelte Trinkgläser mit den Füßen zwischen die Stuhlreihen des Fest­spielhauses, dass es nur so scheppert. Die. Frauen, die dem dämmerungsaktiven Teil der Menschheit zuneigen, geben pünkt­lich mit Verlöschen des Saallichtes dem Wühltrieb nach, der sie im Hellen erstaunlicherweise so gut wie nie befällt, und pflügen mit den Fingern geräusch­voll den Inhalt ihrer Handtaschen um. Es ist also richtig was los; während das Orchester im Graben so tut, als spiele dort die Musik.

Niemand im Saal bemerkt, dass das Vorspiel zu Richard Wagners traurig­schönem, toxisch-süßem Musikdrama „Tristan und Isolde“ längst begonnen hat. Markus Poschner, beim Ringtausch der Dirigenten erst vor zehn Tagen einge­sprungen, hat die Celli mit dem kleinen Sextaufschwung a-f anheben lassen in einem konzentrierten Pianissimo, das der, sich selbst feiernden Präsenz der Nichtzu­hörer hoffnungslos unterliegt. Das Erste, was man vernimmt, ist der Tristan-Ak­kord f-h-dis-gis in Celli, Hörnern, Klari­netten, Fagotten und im Englischhorn in Takt zwei.

Poschner liegt, über die mehr als vier Stunden des Abends hinweg, an der Inti­mität dieser Musik. „Tristan und Isolde“ ist für ihn eher einzartes, kein brüllendes Stück. „Intensiv“ heißt hier nicht automatisch „laut“, obwohl die Fieberausbruche im dritten Aufzug auch orchestral

keines­wegs geflüstert werden. Wenn der Regis­seur Roland Schwab in seinen Kommentaren von der „Dialektik“ Wagners spricht, dann hört man bei Poschner davon schon in den ersten Takten etwas: Das Timbre des Orchesters zielt ins Helle, Hohe. Die Erotisierung des Paarsui­zids, des gemeinsamen Sterbens auf dem Höhepunkt des Glücks, geht mit Verhei­ßungen des Aufstiegs einher. Sehr richtig macht Schwab darauf aufmerksam, dass die Gesangslinie im berühmten Liebes­duett „O sink hernieder; Nacht der Liebe“ aufsteigt, nicht absteigt. Und diesen Drang nach oben arbeitet Poschner schon im Vorspiel auf der farblichen Ebene heraus. Dass er, bei nur wenigen Proben, besonders im zweiten Aufzug so sensibel auf die Singenden reagiert, beweist, wie gut er das Stück einerseits kennt, ande­rerseits zuhören kann auf das, was im konkreten Augenblick geschieht.

Nur zwanzig Tage waren Piero Vinci­guerra geblieben, um das Bühnenbild zu konzipieren, nachdem die Entscheidung für einen neuen „Tristan“ bei den Fest­spielen erst kurz vor Weihnachten gefallen war. Entstanden ist ein akustisch vor­züglicher Innenraum mit einem bassinar­tigen Oval auf dem Boden und elliptisch durchbrochener Decke, durch die man in den Himmel sehen kann. Der Himmel wie die Oberfläche des Bassins werden durch Videos von Luis August Karwen aufwendig animiert. Wolken treiben vorüber. Das Blau stürzt ins Grau, Im zweiten und dritten Aufzug blinken die Sterne durch die Nacht. Für die Lieben­den tanzen sie auch, um neue Sterne zu gebären. Durch die Bühne, die Videos und durch das Licht von Nicol Hungsberg wird mehr Drama erzeugt als durch das Spiel der Figuren, das fast so statisch ist wie in einer Robert-Wilson-Inszenie­rung. Und doch hat die Regie ein durch­dachtes Konzept.

Roland Schwab behält das zentrale Oval während der Animationen – die Ausnahmezustände der Existenz, Ekstasen des Glücks wie des Schmerzes spiegeln – ausschließlich Tristan und Isolde vor. Sie betreten es erstmals, als der Liebestrank zu wirken beginnt. Die Liebe lässt sie zu Glaubenden werden, und plötzlich kön­nen sie – übers Wasser laufen. Dem Mahl­strom totaler Vernichtung setzen sie sich liegend aus, aber sie gehen in den Wirbeln nicht unter. Für Schwab ist „Tristan und Isolde“, wie er am Samstag in der Presse­konferenz sagte, „die schönste Lebensver­neinung, die je komponiert wurde“, und er gönnt den Hauptfiguren wie dem Publi­kum im zweiten Aufzug Bilder traumver­lorener, schönheitstrunkener Weltentrü­ckung: Tristan und Isolde schweben auf der Oberfläche des Bassins wie in einem umgestürzten Kosmos durch die Unend­lichkeit des Sternenmeers. Oben ist unten, die Nacht sinkt, die Liebenden fliegen.

Ihre Entdeckung durch König Marke, Isoldes Mann, und Melot (Olafur Si­guardson) führt zu einem Doppelverhör mit Lichtfolter durch Scheinwerfer und Neonröhren. „Aufklärung“ als krimino­logischer Terminus erscheint als luminö­se Metapher der Gewalt. Tristan wird im dritten Aufzug an den Folgen der Verstrahlung sterben.

Stephen Gould, der bei den Festspielen in diesem Jahr noch den Tannhäuser und den Siegfried singt, ist eine unbegreifli­che Kraftnatur von Tenor. Seine Stimme, bronzen-schwer, ist nicht unbedingt gewinnend, aber charakteristisch, aus­dauernd und abwechslungsreich. Er hat Stütze und Zartheit für das Liebesduett im zweiten Aufzug, er hat die Stoßkraft für die Fieberschübe am Ende, die er klanglich aus kreatürlichem Stöhnen heraus entwickelt; und er haucht das letz­te „Isolde“ im Pianissimo eines Sterben­den: Gesang, der ganz aus dem Drama erwächst. Catherine Foster singt die Isolde mit strömender Wärme, anschmieg­sam, am Ende des zweiten Aufzugs zer­brechlich-zutraulich wie ein kleines Mäd­chen. Etwas mehr Gestaltungsarbeit am Text in den Erzählungen des Anfangs könnte man sich wünschen.

Ekaterina Gubanova, die umwerfende erste Venus in Tobias Kratzers Bayreuther „Tannhäuser“-Inszenierung, die am 8. August wiederaufgenommen wird, ist als Brangäne ein wenig zu dramatisch. Unruhe liegt in ihrer an sich schönen und vollen Stimme, den Text versteht man kaum. Vorbildlich dagegen singen und sprechen Markus Eiche als Kurwenal und Georg Zeppenfeld als König Marke, die als Wagner-Sänger das Ideal dessen verkör­pern, was man sich hier für jede Rolle wünschen würde: beide ihre Rolle – mit verzweifelter Traurigkeit – ausfüllend, bei­de mit Sinn für die Schönheit gesungener Sprache in Diktion und Phrasierung, stets einer fordernden Partitur verpflichtet.

Roland Schwab kontrastiert die Erzäh­lung von Tristan und Isolde, zweier Ex­tremisten des ekstatischen Augenblicks, mit dem Lebensweg eines stummen Paa­res, das wir im Vorspiel als Kinder, im zweiten Aufzug, als Erwachsene sehen: beieinandersitzend, Hand in Hand, träu­mend, staunend, still. Zum Schluss; wenn Isolde ihren Liebestod singt, der ein ein­samer Tod ist wie jener Tristans, kehrt das stumme Paar im Greisenalter auf die Bühne zurück und findet sich wieder Hand in Hand. Den zwei Ausnahmemen­sehen, die nur. alles oder nichts wollen und im Kick höchster Lust die Auslö­schung suchen, stehen zwei Unscheinba­re gegenüber, die das Leben als Geschenk hinnehmen. Ihnen ist gegeben, was Tris­tan und Isolde fehlt: Dankbarkeit. Doch Schwab spielt beide Paare nicht gegenei­nander aus. Er zeigt für sie gleicherma­ßen Empathie und Bewunderung.

Noch bevor der letzte H-Dur-Akkord in Schönheit erstirbt, muss die Gattung der Eventkonsumenten signalisieren, dass Zeit und Geld richtig investiert waren. Man jubelt, klatscht, triumphiert in lautstarker Brutalität in die Musik hinein, hörbar unberührt von deren Weisheit und Traurigkeit. Und anders als bei den Klimaaktivisten. die vor Beginn der Vorstellung in den Bäumen des Festspielparks eine Emissionsent­schuldung der Entwicklungsländer for­derten, hat diese Lautkundgabe keinen andren Zweck, als auf sich selbst zu verweisen.

 

 

Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 2

Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 2,  4.11.2022, 9.15 Uhr

 

Erinnerung an die Anfänge des kritischen Musikjournalismus im deutschsprachigen Raum

Johann Mattheson (1681–1764) veröffentlichte 1739 seinen Vollkommenen Kapellmeister. Aus diesem systematischen Abriss der Musik in Geschichte und Gegenwart rührt der Gedanke her, dass alle Musik – die gesun­gene wie die instrumental ausgeführte – „Klangrede“ zu sein habe. Mattheson war umfassend gebildet. Er beherrschte mehrere Sprachen und hatte juristische Vorlesungen belegt. Die fachkundigen Zeitgenossen hielten ihn für einen recht bedeutenden Librettisten und Komponisten, der selbst auch für die Aufführung seiner Werke sorgte. Hörprobleme, die 1740 zur völligen Taubheit führten, hinderten ihn an der Fortsetzung der praktisch-musika­lischen Karriere. Mattheson wechselte in den diplomatischen Dienst (bei ihm scheint Kurzsichtigkeit und Harthörigkeit ggf. kein Problem). Man rühmte ihn als „hamburgischen Polyhistor“ – und jedenfalls erwies er sich als der erste für den ganzen deutschen Sprachraum bedeutende Journalist. Er war der erste, der europaweit ein Korrespondentennetz unterhielt (also für seine Zeit außerordentlich gut informiert).

Bedeutsam für die Entwicklung des Publikationswesens in Deutsch­land war, dass Mattheson von 1725 an nicht nur mit der Critica Musica eine Kul­turzeitschrift herausgab, sondern fast gleichzei­tig nach französischem Vorbild ein allgemeines journalisti­sches Pro­dukt: den Vernünftler (das Blatt hieß tatsächlich so!). Matthe­son war einer, der Musik und Musikbetrieb, überhaupt dem Kulturle­ben mit Wortgewalt Vernunft beibrachte. Das ist, auch von heute aus gesehen, eine beachtliche Menge.

Dieser vielseitige Mann war einerseits so etwas wie ein Echolot des Betriebs – aber zugleich ein souveräner Kritiker, Ästhetiker und Polemiker.

Was man bis heute von Mattheson lernen kann, ist der systematische Aufbau der Texte – er basiert auf der Kombination von Sammeln, Ordnen, Beschreiben, kritischem Anmerken und dem Artikulieren des Wünschenswerten.

Im Vollkommenen Kapellmeister heißt es in §63 des zehnten „Haupt-Stücks“: „Weil nun die Instrumen­tal-Music nicht[e]s anders ist, als eine Ton-Sprache oder Klang-Rede, so muß sie ihre eigentliche Absicht allemahl auf eine ge­wisse Gemüths-Bewegung richten“ (hier findet sich die Quelle für das Stichwort, das der Dirigent Nikolaus Harnoncourt im späten 20. Jahrhundert dem zunehmend an älterer Musik interessierten Musikbetrieb nachhaltig in Erinnerung rief).

Matthesons Beziehung zu den il­lustren Musik-Meistern seiner Zeit waren freilich nicht frei von Rivalität und Span­nungen. Vom legendären har­schen Streit mit Händel wird aus dem Jahr 1704 berichtet (dieser soll aber bereits zu Weihnachten wieder beigelegt worden sein; vgl. MGG1, Bd.8, Sp.1799). Georg Philipp Telemann ärgerte sich verschiedentlich kräftig über Matthesons „stachelichte Feder, die weder Freund noch Feind zu schonen <sonst> gewohnt gewesen“ (Telemann, Briefwechsel; Leipzig 1972, S. 250).

Mattheson scheint es an Selbstbewusstsein nicht gemangelt zu haben. Er war der erste der so gründlich verachteten Musikkritiker und besaß auch schon einige ihrer heutigen Laster: die „Promi-Geil­heit“ z.B. und den Hang zu selbstgefälligen Formulierungen. Freilich war er es, der dem Metier des sachkundi­gen Schreibens über Musik und Musiker die Türen der Feuilletons öffnete und der modernen Musikforschung das Tor der wissenschaftlichen Eh­ren. – Als Komponist neigte Mattheson selbst, wie der englische Reisende Bur­ney bereits bemerkte, zu „Pedanterie“.

Der Vollkommene Kapellmeister (VK; Hamburg 1736) verstand sich als Handbuch für das Betreiben einer erfolgreichen Kapelle und überhaupt für alle Belange der Musik (Joseph Haydn studierte ihn noch und selbst der sich auch auf musikalischem Gebiet qualifizierende Dichter Goethe).

§ 1 vergleicht das enzyklopädisch angelegte Buch mit einer Land- oder Seekarte und definiert dialektisch – Hauptstück 2, § 15, „Musica ist eine Wissenschaft und Kunst“.

Kompromisshaft verbindet der VK also die mittelalterliche Ge­lehrsamkeit mit gewandeltem Bewußtsein von der musikali­schen Praxis. Der VK weitet das Erkenntnisinteresse aus auf die „Natur-Lehre des Klanges“ aus und periodisiert (IV, 19ff., nach dem Vorbild von Christoph Rau­pach) die Musikgeschichte vom Jahr 2.300 v. Chr. an.

Mattheson beschrieb die Funktion der Musik in verschiedenen historisch und geographisch unterschiedenen Gemeinwesen, in­sbesondere den „Nutzen der Music in der Republik“, erläutert der „Gebärden“, die Stile der unterschiedlichen Musikrichtungen und Gattungen, die Intervallverhältnisse, Tonarten, Notati­onsweisen, Melodiebildung, den zwo-, drei-, vier- und fünf­stimmigen Satz, Fugen und doppelten Kontrapunkt; Instrumen­tenlehre – bis hin zur Frage der Schön­schrift und Leserlich­keit von Partituren und Stimmen. Von der „Pflege und Ausbil­dung der Stimme“ bis hin zur Definition der Auf­gaben eines „Musik-Vorstehers“ (Dirigenten, Kapellmeisters, Musikdirektors) und den Kriterien der „Erfindung“ oder denen des „zierlichen Singens und Spielens“.

Der vollkommene Kapellmeister, 4. Hauptstück (Kapitel IV):

„Von der eigentlichen musicalischen Gelehrsamkeit“

§ 1: Der Gegenstand – Musik in Geschichte und Gegenwart – sei so weitläufig, dass „ein eigener Lehr-Orden daraus zu machen wäre“ (dieses Stichwort gab den Anstoß für die Gründung der Musikwissenschaft, aus der später auch die Theaterwissenschaft und noch viel später die Tanzwissenschaft hervorging)

§ 2: Diagnose: gegenwärtig herrsche Tiefstand der Theorie

§ 3: Schon die Frage nach einer Theorie der Musik löse bei den Experten „ein tiefes und beschämtes Stillschweigen, bey den meisten aber wol gar ein hönisches und albernes Gelächter“ aus.

§ 6: Untersuchungsgegenstand sind „Erfindungen der zum musicalischen Wesen gehörenden Dinge, als die Begebenheiten, Schriften, Personen, Zeiten u.s.w.“ (sehr klare Aufgabenbestimmung! – übrigens auch nützlich für jede einzelne Kritik bis heute!)

§ 7: Drei Hauptuntersuchungsgebiete; das erste: „die Zeit-Rechnung“ (i.e. die Epocheneinteilung)

§ 8: Das zweite: „die Personen und ihren Lebenslauff“ (biographische Forschung bzw. Information);

§ 9: Das dritte Arbeitsfeld könnte und sollte „die Werckzeuge vornehmen, die zum Spielen erfordert werden“ (Werkzeuge im weitesten Sinn: –> Systematische Musikwissenschaft)

§ 10: und dies nicht nur im näheren Gesichtskreis des Theoretikers, sondern: „die musicalischen Kling-Zeuge verschiedener Völckerschaften“ (–> Musikethnologie)

§ 20–22: Mattheson teilt die Musikgeschichte in drei große Epochen ein: Von den Anfängen bis zum Ende des weströmischen Reichs bzw. Papst Gregor d.Gr., von diesem bis ziemlich genau 1600 („seconda prattica“) – „gantzer tausend Jahr“; die dritte Periode von 1600 bis zu seiner Gegenwart „… würde zwar die wenigsten Jahre begreifen; aber doch so viel Stoff zur Hand geben, daß die beiden ersten Periodi dabey nur geringe aussehen dürften“. (also: Fokussierung auf die jüngere Vergangenheit und aufs Aktuelle.

Zusammenfassend: Johann Mattheson war so etwas wie ein Echolot des Betriebs – aber eben, wie Friedrich Blume schrieb, „der bedeutendste Kritiker, Ästhetiker, Polemiker, ja Enzyklopädist der deutschen Musikgeschichte des 18. Jahr­hunderts“.

zu Kapitel V

Bemerkenswert, dass Musik nicht nur als wissenschaftlicher Gegen­stand, sondern durchaus als gesellschaftliche Größe, in politi­schen Zusammenhängen stehend begriffen wird (da war man an den Anfängen sehr viel weiter als später, wo all das eher ausgeklammert wurde). Also: Musik als Ferment und Indi­kator der gesellschaftlichen Prozesse.

Weiterführende Literatur:

Bahnbrechend für das Neue

Anfänge der Musikkritik in Deutschland

Musikkritik ist eine vergleichsweise späte Erscheinung. Sie entstand um 1700 im Zuge der Aufklärung. Protagonist im deutschsprachigen Raum war Johann Mattheson in Hamburg, ein Zeitgenosse und Dialogpartner u.a. von Händel und Telemann, zunächst Sänger, dann auch Librettist und Komponist. Angesichts von Gehörproblemen verlegte er sich aufs Schreiben über Musik, avancierte zum »hamburgischen Polyhistor« und wechselte in den diplomatischen Dienst. Als bedeutsam für die Entwicklung des Publikationswesens erwies sich, dass Mattheson mit vielerlei Briefwechseln ein europaweites »Korrespondentennetz« aufbaute, von 1725 an mit der Critica Musica die erste deutschsprachige Kulturzeitschrift herausgab und, fast gleichzeitig, nach englischem Vorbild und weitgehend auf den Londoner Blättern Tatler und The Spectator basierend das erste allgemeine journalistische Produkt: den Vernünftler.

Musikkritik erweist sich in ihren frühesten Beispielen als Medium des Kampfes um ästhetische Neuerungen. Neben einer Öffentlichkeit, an die sie sich richten kann, war sie grundsätzlich an neuartige Musik gebunden, der es die Bahn zu brechen galt. Im frühen 18. Jahrhundert war dies – wie in England – vor allem die Oper, die ihre künstlerischen Mittel konsequent in den Dienst des theatralen Affektausdrucks stellte. Musikkritik konstituierte und manifestierte auf diesem Wege nationalkulturelles Selbstverständnis. Es ist also kein Wunder, dass sie sich im höfischen Umfeld ebenso wenig entwickelte wie dort, wo nationale oder regionale Musikkultur nicht verteidigt werden mussten. Frankreich erlebte sie als öffentliches Phänomen erst im Zuge des Buffonistenstreits; Italien brachte im 18. Jahrhundert kaum musikkritische Publizistik hervor.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbanden sich dann ästhetische und soziologische Bestimmung des kritischen Publizierens über Musik. Es entstand das, was auch heute umstandslos als Musikkritik gelten kann. Johann Adam Hiller war mit den 1766 bis 1770 in Leipzig erscheinenden Wöchentlichen Nachrichten und Anmerkungen die Musik betreffend einer der ersten konsequenten Publizisten auf diesem Gebiet und Vorreiter bei der Bemühung um ein nationales Idiom. Etwa zeitgleich erschienen entsprechende Periodika in England und Frankreich.

Das öffentliche Urteil über musikalische Werke wurde ausgeweitet und verstetigt. Erst jetzt schien eingelöst, was Mattheson ein halbes Jahrhundert zuvor mit rhetorischer Verve und polemischem Druck erstmals und dann fast ein Leben lang immer wieder einforderte: Musik, jenes »wunderschöne und vollenkommene Geschöpffe / welches der gütige GOtt uns Menschen zur Lust / und gleichsam zum Vorbild der ewigen harmonischen Herrlichkeit gegeben«, ist ständiger Diskussionsgegenstand einer öffentlichen Gemeinschaft. Sie nimmt damit teil an einem Beurteilungs- und Aussonderungsprozess – an der Pflege des »musicalischen Garten[s]«, der Mattheson 1722 die Critica musica gewidmet sehen wollte.

Bereits 1713 hatte er die Musik zur höchststehenden Kunst erhoben und sich dazu einer theologisch fundierten Argumentation bedient. Musik existiert als »etwas unerschaffenes und ab æterno in æternum«. Gott hat sie dem Menschen »eo ipso eingeflösset und ertheilet«: »vor dem Fall als ein grosses Theil seines Glückes und seiner Seeligkeit / nach demselben aber als ein sonderliches Geschencke und ungemeines Labsahl«. Musik ist unendlich; auf Erden bereits erklingt ein Vorgeschmack ewiger himmlischer Harmonie. Originell verbindet Mattheson diesen theologischen mit einem dezidiert aufklärerischen Ansatz: »Music hat einen Göttlichen / himmlischen / gebenedeyeten Ursprung / und ist / so weit sie diese Welt angehet / in der selbstständigen Natur gegründet«. Für Mattheson als tiefgläubigen Protestanten wie als Weltmann ist Musik – weltliche wie geistliche – in letzter Instanz immer Gottesdienst. Dieser ist umso intensiver, je wirkungsvoller Musik zum Einsatz kommt. Wirkung aber wird um 1700 konsequent individualisiert, ihre Beurteilung der Kategorie des Geschmacks unterworfen. Matthesons radikale, ja wütende Abkehr von älteren Lehrgebäuden dient der Etablierung dieser Individualität der Wahrnehmung und des Urteils. Sie geht einher mit einem Evolutionsgedanken der Musik, wie er in zahlreichen Publikationen der Zeit aufscheint. Demnach erreicht Musik in der Jetztzeit einen historischen Gipfel, der von »neuen / lebendigen / künstlichen [und] galanten Subjectis« markiert wird. Deren Individualität muss über Regeln erhaben sein. Nur ein mündiges und mobilisiertes, ein im besten Sinne aufgeklärtes Publikum – Fachkollegen und Liebhaber gleichermaßen – kann hier bewertend mitreden. Matthesons rhetorische Anstrengungen, die Übertreibungen und polemischen Härten, mit denen einem »Verfall der Music« durch das »Feuer der Vernunfft« begegnet werden sollte, stehen immer im Dienste des göttlichen Wesens der Musik. Nur durch ständige Kritik schien Mattheson der gemeinschaftliche Dienst an diesem Gottesgeschöpf lebendig zu erhalten zu sein, ohne den ihm, ebenso wie vielen seiner Zeitgenossen und Nachfolger, eine lebenswerte Welt nicht denkbar war.

Hansjörg Drauschke

Literatur:

– Johann Mattheson, Das Neu-Eröffnete Orchestre, Hamburg 1713; hier insbesondere S. 1 u. 302–204.

– Johann Mattheson, Critica musica, »Vortrab«, Hamburg 1722, [S. 3].

– Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739.

Quelle: Frieder Reininghaus, Judith Kemp, Alexandra Ziane, Musik und Gesellschaft, Essay 1713, Bd. 2, S. 404–406.

 

 

Aix-en-Provence 2022

Reproduktion der Reproduktion

Preisträgerkonzert des Aeolus-Bläserwettbewerbs, 11.9.2022, Tonhalle Düsseldorf

Der Nachwuchs kann sich hören lassen. Mehr noch: In der Düsseldorfer Tonhalle bescherten die siegreichen Finalisten des 16. Internationalen Bläserwettbewerbs Aeolus einen auch musikalisch besonnten Sonntagmittag im September. Besonderen Pfiff hatte Vincent Davids Pulse, ein Solo von sieben Minuten Dauer. Der als bester Interpret zeitgenössischer Musik ausgezeichnete Roman Markelov entlockte sie seinem Saxophon. Dies einzige Stück neueren Datums bot der stupenden Technik des in Moskau geborenen Kölner Studenten beste Demonstrationsmöglichkeiten für blitzschnelle Registerwechsel, sonore Tiefen, grelle Höhen. Schlagimpulse auf den Klappen strukturieren die exaltierte Melodie-Lineatur. Deren Notation knüpft an den Aufzeichnungskurven eines Apparats der Intensivmedizin an und steuert effektiv einem herzzerreißenden Höhepunkt zu.

Vor dieser kurzweiligen Zugabe absolvierte Salvatore Alessandro Miceli im Hauptprogramm Pierre-Philippe Bauzins Poème (1960). Der christlich fundierte inbrünstige Dialog ohne Worte zwischen Solist und Orchester bietet weit weniger Angriffspunkte zum Vorführen technischer Finessen als Pulse. Dies ist in der zugespitzten Wettbewerbssituation ein Handicap, das der aus Sizilien stammende Saxophonist trotz makelloser Leistung nicht kompensieren konnte. Von der Jury wie durch das Plebiszit wurde sie auf Platz 3 verwiesen.

Gerahmt wurde das epigonale Poème von altbewährtem Mozart. Karsten Hoffmann, seit drei Jahren beim Sinfonieorchester Wuppertal, absolvierte das Horn-Konzert KV 595 makellos mit souveräner Gelassenheit und holte sich den 2. Preis. Der erste ging an Oliver Shermacher (Australien). Er nutzte das Klarinetten-Konzert mit Gefühl fürs Elegische, beeindruckender Fingerfertigkeit und lockerem Charme für eine sehenswerte Performance. Die Ungenauigkeiten der von Vitali Alekseenok aufgemunterten Düsseldorfer Symphoniker konnten ihn nicht beirren.

Gewiss sind Studierende froh, wenn sie sich bei einem gutdotierten Wettbewerb profilieren und ggf. einen Scheck mitnehmen können. Als wären sie die Meistermerker von Nürseldorf, saßen die älteren Herren der Jury beim Final-Konzert in einem vom übrigen Auditorium abgegrenzten Geviert. Sie waren zum selben Urteil gelangt wie das Publikum. Auf die Erfüllung von dessen eingefleischten Erwartungen ist die Veranstaltung ausgerichtet. Im Prinzip ist sie edel, hilfreich und gut für die Reproduktion von „Klassik“-Nachwuchs.

Eine Redakteurin des Deutschlandfunks fungiert bei Aeolus seit 16 Jahren als moderierende Glücksfee. Eigentlich hätte sie sich von Berufs wegen unabhängig journalistisch um Aktuelle Kultur zu kümmern. Warum die Rundfunkgebührenzahler das als steuerbegünstigte Stiftung aufgesattelte Steckenpferd des sehr gewinnend auftretenden Bankiers und Enthusiasten Sieghardt Rometsch mitfinanzieren müssen, bleibt erklärungsbedürftig. Was veranlasst den DLF, ausgerechnet einem langjährigen Repräsentanten einer schlecht beleumundeten Investmentbank dauerhaft als „Kulturpartner“ zu dienen und seine musikpolitische Aktivitäten nicht demokratisch-pluralistischer auszurichten? Auch beim Deutschlandfunk sind Glasnost, Perestroika und Frischluft angesagt.

Er hat sich nicht geschont

Zum Tod des Dirigenten und Intendanten Stefan Soltesz

Das letzte mal gesprochen habe ich mit Stefan Soltesz Ende Juni an einem Tischchen auf dem Trottoir vorm Restaurant Rosati in der Berliner Bismarckstraße. Man konnte sich an jenem Sonntagnachmittag in der Deutschen Oper von den Qualitäten bzw. dem Misslingen der „Meistersinger“-Aufarbeitung von Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito überzeugen. Nach den gut sechs Stunden Verweildauer im Betonklotz auf der anderen Seite des Boulevards waren angesichts der hochsommerlichen Außentemperatur kühle Getränke angesagt.

Soltesz saß schon und hatte den schlimmsten Durst gestillt. „Ich wohne ja, wenn ich in Berlin bin, hier direkt um die Ecke“ – und schon berichtete er, vital und bestens gelaunt, was er in nächster Zeit alles dirigieren werde. Vornan „Die schweigsame Frau“ von Stefan Zweig und Richard Strauss. Die ging ihm hörbar im Kopf herum und er scherzte über den letzten Satz des Sir Morosus: „Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist!“. Es ergab sich ein längerer Gesprächsabschnitt zu seinem Faible gerade auch für die seltener gespielten Bühnenwerke des Garmischer Meisters. Wir waren uns nicht ganz einig hinsichtlich der immer noch bemerkenswerten, aber eben für die Nachwelt nicht ganz unproblematischen Routine der Bühnenarbeiten aus den 1930er und 40er Jahren samt deren toxischen Nebenwirkungen.

Kurz unterhielten wir uns auch noch einmal über die „Ägyptische Helena“. Nach der Uraufführung 1928 war ihr weiters der Erfolg versagt geblieben. Offensichtlich wirkte das Werk bereits auf die Augen und Ohren der Zeitgenossen anachronistisch. Dennoch riskierte Soltesz vor zwanzig Jahren die Reaktivierung. Der Bühnenbildner und Regisseur Gottfried Pilz sorgte für die szenische Realisierung.

Wir erinnerten uns an die Probleme, die Hugo von Hofmannsthals Verquirlung von Seitensträngen der Sagen vom Aufstieg und Fall der Stadt Troja und Goethes „Faust II“ mit einem modernen Ehe-Drama damals der Produktion konzeptionell beschert hatten. Auch, wie die Befürchtungen, dass sich Werke wie dieses am Ende noch nicht erfolgreich würden reanimieren lassen, damals zerstoben, indem Helen Donath als Aithra das zerstrittene Paar aus Mythologien, die mit Heroinen-Stimme zuschlagende Luana DeVol und den wendigen Tenor Hendrik Vonk, zusammenzaubern konnte. Mit zäher Energie und glücklicher Dirigentenhand hatte Soltesz seinem Essener Strauss-Zyklus 2003 eine weitere Spitzenleistung hinzugefügt. Überhaupt imponierte er kontinuierlich mit intensiver Spannkraft und dem sichtbaren Willen, Orchester und Stimmen für hohe Ziele rigoros zu fordern.

Braunschweig und Antwerpen

Man konnte ihn gelegentlich im Zug von West-Berlin Richtung Helmstedt und weiter in die westliche Bundesrepublik sehen. Braunschweig liegt an der Strecke. Dort war Soltesz ab 1988 als Generalmusikdirektor engagiert, als noch die D-Züge mit den Sechser-Abteilen verkehrten. Er benötigte vorzugsweise zwei oder drei Sitzplätze für die aufgeschlagenen Partituren, die er durcharbeitete. Er verließ das Staatstheater im östlichen Niedersachsen, als die von ihm betriebene Anhebung des Orchesters in den A-Status (und damit die Zahl der Planstellen) von Gerhard Schröders Landesregierung in Hannover erst einmal abschlägig beschieden wurde. Als er es ernst meinte mit seinem Abgang, wurde die Aufbesserung dann doch bewilligt.

In einem belgischen Waggon auf dem Weg zu einer Premiere der Flämischen Oper in Antwerpen, wo Soltesz von 1992 bis 1997 als Chefdirigent unter Vertrag stand, kamen wir übers Partitur-Studium ins Gespräch. Er hatte in erster Linie so präzise wie möglich zu memorieren, wie das Stück gebaut ist – Kritiker und Wissenschaftler sind ggf. auch mit der übers Handwerkliche hinausreichenden Frage konfrontiert, „was es ist“. Diesem Ansinnen freilich stellt sich in günstigen Fällen auch der Dirigent und nicht nur im Vorfeld einer Produktion.

Die Methode, mit der Soltesz in Antwerpen und Gent beispielsweise das Triebleben der „Toten Stadt“ von Erich Wolfgang Korngold aufheizte, blieb gewöhnungsbedürftig. Musikalische Langeweile freilich war das letzte, was den von Soltesz befehligten Abenden vorzuwerfen blieb. Und das Orchester profitierte vom Arbeitsstil und -ethos des Chefs.

Große Machtfülle, weiter Gestaltungsraum

In Essen war Soltesz von 1997 bis 2013 Generalmusikdirektor der Philharmoniker und Intendant des Aalto-Musiktheaters. Er startete mit Beethovens und Hilsdorfs „Fidelio“. Der Amtsvorgänger Wolf-Dieter Haunschild hatte das Konzept als „zu provokant“ abgelehnt. Denn Dietrich Hilsdorf machte der Betulichkeit des Textes durch radikale Kürzungen der Dialoge und Hinzufügung kess kommentierender Obertitel den Garaus. Soltesz behandelte Beethovens Musiktheaterschmerzenskind pfleglich, trug der Heterogenität der musikalischen Momente vollauf Rechnung. In hohem Maß ließ er sich von den Ansprüchen des Gesamtkunstwerks Oper leiten und hatte nicht nur sein Metier im Blick. Das Aushandeln von Verträgen war ihm nach eigenem Bekunden eher Lust als Last – und das Einhalten von Etatplänen hielt er für selbstverständlich. „Das war mir nie lästig. Ich bin gern Manager“, sagte er einmal.

Im November 1999 setzte er in Essen mit dem „Regie-Berserker“ Hilsdorf auch dessen Verdi-Zyklus fort. Der Regisseur versuchte, die von der Zensur und von problematischen Umarbeitungen verdorbene (und daher immer wieder zur Parodie reizende) Handlung des Maskenballs dadurch zu „retten“, dass er sie an einen Märztag des Jahres 1858 und nach Neapel verlegte: ein König Riccardo, so lebens- und liebeshungrig wie unterschwellig todessüchtig, inszenierte da sich und seinen rauschenden Lebensstil. Hilsdorf entfachte ein bitterböses Beziehungsfeuer, wiederum sekundiert von launig formulierten Obertiteln: Hinter der Harmonie lauerte der Terror.

Auch bei der durch Salvatore Cammerano politisch entschärften „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller retuschierte Hilsdorf erheblich. Er reicherte Verdis Musikdrama mit Stichworten Georg Büchners an. In drastischen Bildern predigte er „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“, streute die militantesten Liebesgrüße des „Hessischen Landboten“ ein. Aber die Titelheldin Luisa Miller, so will es das Stück, muss schließlich doch dem Quartett verkommener Männergestalten unterliegen – einem abgrundbösen Grafen Walter und dem verhaltensgestörten Faktotum Wurm, dem egoistischen Vater, diesem daueralkoholisierten Querulanten, und einem lauttönenden Tenor-Liebhaber, der doch nur ein jämmerlicher Versager ist.

Die brutale Deutlichkeit und Eindeutigkeit der Sichtweisen Hilsdorfs prägte das Repertoire des Aalto-Theaters am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie setzte im Verbund mit dem musikalischen Qualitätsanspruch und den mitunter eigenwilligen Interpretationen von Soltesz emphatische Signale in der Ruhr-Region.

Freilich nicht im Alleingang. Peter Konwitschny inszenierte „Daphne“ von Richard Strauss, bei der es zentral um das erotisch-sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau geht. Der DDR-gestählte Regisseur überformte den Schluss der Oper mit wiederkeh­renden Projektionen von BDM-Fräuleins, Hitler-Jungs, Mas­senaufmärschen und dem kahlen Kopf des alten Strauss. Damit sollte auf die „objektive“ Funktion verwiesen werden, die dieses Stück zum Zeitpunkt der Entstehung erfüllte. Unterstellt wurde ein subkutan pronazistischer Kontext des Werks. Das setzte auch den dirigierenden Intendanten, einen eifrigen Protagonisten des großen Richard Strauss, kontroversen Diskussionen aus.

Der hielt im 1988 eingeweihten Theaterneubau an der Rolandstraße energisch und mitunter wohl auch etwas feldherrlich die Fäden sowie bemerkenswert oft auch den Taktstock in der Hand – stets recht gebieterisch, doch eben auch umsichtig. Die verlässliche Kontinuität, mit der er das Haus programmierte und disponierte, bescherte diesem eine gute Auslastungsquote. Der im Zusammenwirken mit Hilsdorf gewachsene Verdi-Zyklus, die Vitalisierungen von Opern und szenisch aufbereiteten Oratorien Georg Friedrich Händels und die Wagner-Produktionen prägten das Programm des Essener Hauses.

Vor allem auch markante, wuchtige und illustre Strauss-Anstrengungen u.a. mit Konwitschny und Pilz, Nicolaus Brieger und Tilman Knabe. Die als Revue über Geld und Liebe dahertänzelnde „Lustige Witwe“ durfte so wenig fehlen wie der von Stefan Herheim brillant interpretierte „Don Giovanni“: eine österreichisch-ungarische Fundierung prägte den Grundton und das Aroma. Auch Aktuellem half Soltesz zum Durchbruch: Mit der Uraufführung der „Arabischen Nacht“ von Roland Schimmelpfennig und Christian Jost brachte er eine der interessanteren Arbeiten des neuen Musiktheaters zur Uraufführung. Als einziges Opernunternehmen weit und breit konnte das Aalto-Theater eine Zeitlang mit den großen Staatsbetrieben der benachbarten Königreiche in Brüssel und Amsterdam auf gleicher Augen- und Ohrenhöhe mithalten.

Unterwegs

Geboren wurde Stefan Soltesz 1949 in Nyíregyháza im Grenzland von Ungarn, Rumänien, der Ukraine und der Slowakei. Als Siebenjähriger kam er nach Wien – wie so viele Ungarn, die im Kontext der politisch-militärischen Spezialoperation der Sowjetunion gegen ihr nur noch unwillig gulaschkommunistisches Heimatland 1956 nach Westen emigrierten. Stefan wurde Sängerknabe und Österreicher. Die Ausbildung setzte sich an der Wiener Hochschule für Musik und darstellende Kunst fort. Soltesz studierte Klavier, Komposition und insbesondere Dirigieren bei Hans Swarowsky. Erfahrungen sammelte er auch als Assistent so unterschiedlicher Dirigententypen wie Karl Böhm, Christoph von Dohnányi und Herbert von Karajan.

Die Kapellmeisterkarriere begann 1971 im Theater an der Wien – Soltesz war gerade 22 Jahre alt geworden. Über Berlin, Hamburg, Paris und London setzte sie sich fort. Sie führte nach Catania, Bilbao, Buenos Aires, Washington, San Francisco und Japan. Die festen Leitungspositionen in Niedersachen, Antwerpen/Gent und insbesondere im Ruhrgebiet erweiterte den individuellen Gestaltungsradius. Orchesterschulung über einen längeren Zeitraum war Soltesz ebenso ein Anliegen wie die Anteilnahme an der Entwicklung von Sänger*innen.

Mit den Jahren reiften die Interpretationen. Das Gespür für Zwischentöne und Finessen wuchs ebenso wie das Bewußtsein, wie notwendig jeweils das Bemühen um stringente Werkgestalt ist. Zusammen mit Hilsdorf brachte Soltesz 2011 eine Version von „Hoffmanns Erzählungen“ heraus, die den ursprünglichen Intentionen Offenbachs wohl so nahe kam wie bislang wenige. Damit wurde beiläufig eine 130jährige Bearbeitungsgeschichte kritisch kommentiert. Dies Ringen um die Balance zwischen Verantwortung gegenüber dem historisch relativierten Notentext und der für alle Interpretation gebotenen Frische bildete auch die produktive Voraussetzung für orchestrale Großwerke wie Gustav Mahlers Dritte. Soltesz dirigierte die so manche Naturschönheit, mythische Fernen und hautnahe Gefühle anrufende Symphonie Anfang 2012 an der alten Wirkungsstätte in Braunschweig. Im Rahmen dieses von Altsolo, Knabenchor und Frauenchor überwölbten Konzerts wurde er zum Ehrendirigenten des Staatsorchesters ernannt.

Die letzte große Produktion der sechzehnjährigen Amtszeit in Essen war ein „Parsifal“, den der Choreograph Joachim Schloemer in eine der theatral längst über Gebühr in Anspruch genommenen Intensivstationen einhegte. Medizinische Extrembehandlung ist Stefan Soltesz im wirklichen Leben schließlich erspart geblieben. Nach einem knappen Jahrzehnt neuerlich intensiver und höchst erfolgreicher Reisetätigkeit ist er am 22. Juli 2022 in der Bayerischen Staatsoper München gegen Ende des ersten Akts der unter seiner Stabführung musizierten „Schweigsamen Frau“ zusammengebrochen und war tot. Er hat es ernst gemeint mit seinem Abgang.

https://www.nmz.de/online/er-hat-sich-nicht-geschont-zum-tod-des-dirigenten-und-intendanten-stefan-soltesz

Uni Salzburg Arbeitsmaterial für Sitzung 1

Uni Salzburg 2022/23 „Stil und Form – Schreiben über Musik etc.“ – Arbeitsmaterial für 1. Sitzung am 21.10.

 

Text B: „Streiflicht“ in einer seriösen überregionalen deutschen Tageszeitung vom 19.8.2022:

Selbstauswilderung

Waren das noch Zeiten, als Georg Rösch von Gerolds­hausen 1558 die Hauptein­nahmequelle des Ortes so beschrieb: „Swatz ist aller perckhwerck muater zwar / Davon nert sych ayn gar gross schar.“ Längst ist die Kuh, die man hier melkt, nicht mehr der Berg, son­dern der Tourist. Und die Mutter aller Bergwerke, Schwaz in Tirol, ist heute Wohnort des in Österreich weithin bekannten Dramatikers und Schau­spielers Felix Mitterer, der vergange­nes Jahr im Alter von dreiundsiebzig Jahren aus seiner Wahlheimat Südti­rol nach Nordtirol übersiedelte. Davor hatte er lange auf der Schriftsteller als Steuerparadies ködernden Insel Irland verbracht. Zeit für den Lebensabend auf heimatlicher Scholle. Doch das Glück nahe der Inntalautobahn währ­te nicht lang. Die Tiroler Behörden stellten dem berühmten Mann – er hatte in den Neunzigerjahren mit sei­ner „Piefke-Saga“ Fernsehgeschichte geschrieben – die Aufforderung, er möge seine Einkünfte für das Jahr 2019 nennen sowie jene für das lau­fende Jahr schätzen, damit man ihm die in Tirol gesetzlich verankerte Tou­rismusabgabe für Unternehmer abknöpfen könne: Mitterer schaltete Landeshauptmann und Kulturlandes­rätin ein, man fand eine geschmeidige Lösung – da seine Einkünfte außer­halb Tirols erzielt würden, habe man ihm die Abgabe erlassen wollen. Aber da war Mitterers Entscheidung schon gefallen, die Wohnung wieder gekün­digt. Begründung: Egal wie hoch, er lehne die Abgabe aus Prinzip ab. Nicht er müsse eine Abgabe zahlen, sondern der Tourismus ihm. Stellt man in Rechnung, wie viel der Autor für die Bekanntheit seiner Heimat im Land der Piefkes getan hat, kann man das nachvollziehen. Der in vier Teilen zwischen 1990 und 1993 ausgestrahlte Fernsehfilm machte sich über norddeutsche Sommerfrischler ebenso lus­tig wie über die Einheimischen in Gastronomie und Hotellerie, wirklich gut kommt keine der beiden Seiten weg. Mitterer arbeitet derzeit an einem fünften Teil, Auslöser war der Umgang mit der Covid-Pandemie im, so der Autor, früher „hundsarmen“, heute „hundsreichen“ Ischgl. Mitterer ist nicht der Erste, der sich an der Tou­rismusabgabe stört, und natürlich ist jetzt eine Debatte aufgeflammt, die deren Abschaffung respektive konse­quente Durchsetzung fordert. Der Autor selbst zieht schon im Oktober weiter ins innerösterreichische Aus­land. Im Gespräch sind die Bundes­länder Ober- und Niederösterreich, also die Heimat all jener Urwiener, die aus dem Reichraminger Hintergebirge, dem Traun- oder Strudengau stammen. Literaturbiologen, da wird eine Langzeitbeobachtung fällig: Gelingt dem Tiroler Felix Mitterer die artgerechte Selbstauswilderung?

 

Text A: Feuilleton-Artikel in einer Wiener Tageszeitung vom 17.8.2022:

Wegen Tourismusabgabe verlässt der Tiroler Autor Felix Mitterer seine Heimat

Schwaz. Der Tiroler Autor Felix Mitterer hat sich – nachdem er Mitte 2021 mit seiner Frau Agnes Beier in sein Heimatbundesland zurückgekehrt war – laut Medienberichten dazu entschieden, dieses spätestens Ende Oktober wieder zu verlassen. der Grund: Das Land forderte auch von ihm die Tourismusabgabe, die jeder Unternehmerin und jeder Unternehmer in Tirol automatisch leisten muss, wenn sie Teil der „am Tourismus direkt oder auch nur in direkt partizipierenden Wirtschaft“ sind. Daran stieß sich der Dramatiker offenbar: „Der Verfasser der ‚Piefke-Saga’ kann keine Tourismusabgabe zahlen.“ Der Tourismus sollte der Kunst etwas zahlen, nicht umgekehrt.

Zuvor hatte er laut „Tiroler Tageszeitung“ (Mittwochsausgabe) den Kontakt zu Landeshauptmann Günther Platter gesucht und um Vermittlung von Kulturlandesrätin Beate Palfrader (beide ÖVP) gebeten. Eine vom Landeshauptmann offenbar in Aussicht gestellte „Tiroler Lösung“ – dem Vernehmen nach stand im Raum, dass ihm die Abgabe erstattet werden könnte – lehnte Mitterer ab. „Es geht nicht ums Geld, es geht mir ums Prinzip“, so der 74-jährige Schriftsteller, der „seinen Lebensabend“ in der Bezirkshauptstadt Schwaz verbringen wollte. „Egal, ob die Abgabe nun 100 Euro oder 30 Cent beträgt – ich werde das nicht zahlen“, stellte er klar.

Wohnung in Schwaz gekündigt

Die Post der Tourismusabteilung des Landes Tirol hatte den Dramatiker im März erreicht. Er wurde darin aufgefordert, seine Umsätze seit 2019 anzugeben – und jene für 2022 zu schätzen. Auf Grundlage dieser Angaben sollten die „Pflichtbeiträge nach dem Tiroler Tourismusgesetz“ erhoben werden, die Mitterer zu entrichten habe.

Gerhard Föger, Leiter Tourismusabteilung des Landes, sagte der Tirol-Ausgabe der „Kronen Zeitung“ (Mittwochsausgabe), Mitterer habe schriftlich wissen lassen, dass die betreffenden Umsätze gänzlich außerhalb Tirols erzielt worden seien. Daraufhin sei er davon in Kenntnis gesetzt worden, dass die genannten Jahre beitragsfrei seien und keine Vorschreibung erfolgen werde. Somit sei die Angelegenheit positiv erledigt.

Medienberichten zufolge hatten Mitterer und Beier ihre Wohnung in Schwaz jedoch bereits gekündigt. Wohin sie ziehen werden, sei noch unklar. Vermutlich könnte es die beiden nach Nieder- oder Oberösterreich verschlagen – in die Nähe ihrer beiden Töchter.

„Piefke-Saga“ sei „genug Werbung“

Die „Piefke-Saga“, ein satirischer Fernsehmehrteiler über die Untiefen des touristischen Treibens in Tirol, machte Mitterer Anfang der 1990er-Jahre weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Obwohl das Werk mit der gewinnorientierten Gastfreundlichkeit in den hiesigen Hotelhochburgen hart ins Gericht ging, entwickelte sie sich zur unbezahlbaren Tirol-Werbung. „Ich habe damals Briefe aus ganz Deutschland gekriegt, die sich nach der Lage des fiktiven Dorfes Lahnenberg erkundigten“, erinnerte sich Mitterer und unterstrich: „Ich habe mit meinem Gesamtwerk wohl genug Werbung für Tirol gemacht.“

Felix Mitterer ist nicht der erste Tiroler Kulturschaffende, der sich an der verpflichtenden Tourismusabgabe stößt. Widerstand gegen den seit 1927 eingehobenen Pflichtbeitrag hatte etwa auch der Komponist Werner Pirchner geübt. Letztlich hatte in diesem Fall vor gut 30 Jahren eine Intervention des damaligen Landeshauptmanns Wendelin Weingartner eine Zwangsvollstreckung verhindert.

Neos fordern Abschaffung, Grüne „Ökologisierung“

Mitterers Abwanderung rief am Mittwoch auch Neos-Landessprecher Dominik Oberhofer, der sich als pinker Spitzenkandidat wenige Wochen vor der Landtagswahl am 25. September im Wahlkampf befindet, auf den Plan. Er forderte ein Aus der Tourismusabgabe. Diese sei „längst überholt und kann nicht gerecht aufgesetzt werden“, so seine Argumentation. „Während selbst Kulturschaffende mit der Abgabe belastet werden, zahlen die großen Hauptprofiteure des Tiroler Tourismus wie Booking.com, Airbnb oder Expedia keinen Cent“, meinte Oberhofer.

Die Grünen stießen sich indes – in Person des Kultur- und Tourismussprechers LAbg. Georg Kaltschmid – an der Ankündigung Platters bezüglich einer „Tiroler Lösung“. Kaltschmid erteilte einer möglichen „Bevorzugung“ eine Absage: Die Tourismusabgabe müsse „für alle oder für niemanden gelten“, so der Landtagsabgeordnete. Anstatt einer wie von den Neos geforderten Abschaffung trat seine Partei für eine „Ökologisierung“ ebendieser ein. „Eine ökologische Zweckbindung der Mittel und ein Anreizsystem durch Verminderung der Beitragshöhe für nachhaltige Betriebe wären höchst an der Zeit. Eine Abgabe sollte einen Lenkungseffekt haben. Derzeit tut sie das nicht“, legte Kaltschmid die Gründe dar. (APA, luza, 17.8.2022)

 

Aufgabenstellung:

  1. Vergleichen Sie bitte Text B mit dem zwei Tage zuvor erschienenen Text A:

– Welche wesentlichen Informationen werden übernommen und weitergereicht, welche entfallen?

– Wurden hinsichtlich der Darstellung des Sachverhalts (Wohnungswechsel eines Schriftstellers) Akzente verschoben und wenn ja, wie?

– Welche substantiellen Informationen sind in B hinzugekommen?

2.  Wie verhalten sich die beiden Texte, die offensichtlich nicht auf eigene Recherchen ihrer Autor*Innen zurückgehen, zu den von ihnen verwendeten Quellen wie Tiroler Tageszeitung oder APA? Ist Ihnen der Hintergrund von Mitterers Verdiensten um die Werbung für das Urlaubsland bekannt? Kennen Sie die „Piefke-Saga“ und die Hauptquelle/den Hintergrund, aus dem deren Plot schöpfte? Ist Ihnen die Herkunft des Kosenamens für die Deutschen bekannt? Zu all diesen Aspekten: siehe die Texte aus der ÖMZ und der Anthologie Musik und Gesellschaft (Würzburg 2020).

3. Analysieren und bewerten Sie bitte die Argumentation Felix Mitterers gegen die Entrichtung der „Tourismusabgabe“ durch einen Bürger seiner Sorte; ebenso die Forderung, „der Tourismus“ solle „der Kunst“ etwas bezahlen.

4. Wie verhalten sich die beiden Texte zur Frage einer rechtlichen bzw. gesellschaftlich-faktischen Sonderstellung von Schriftstellern, Künstlern (oder sonstigen Prominenten) in steuerrechtlichen/steuerlichen Fragen („Tiroler Lösung“)?

5. Kommentieren Sie bitte die Anspielung auf das „Steuerparadies Irland“.

– Wenn Künstler oder Autoren unternehmerisch oder unternehmerähnlich tätig sind, sollen sie dann Ihrer Meinung nach auch die Vor- und Nachteile einschlägiger Steuergesetze genießen? Sehen Sie Probleme bei der rechtlichen Eingruppierung von Künstlern und Autoren in die generelle Rubrik der „Selbständigen“ und/oder der „Unternehmer*innen“?

6. Das „Streiflicht“ beginnt mit einer kleinen Pointe, zu der dem/der Autor/in „Der fürstlichen Grafschafft Tyrol Landtreim“ von Georg Rösch von Gerolds­hausen verholfen hat (der Wortlaut steht im Netz). An welche Lesertypen ist das Aperçu aus dem Schatzkästchen des wikipedia-Wissens adressiert?

7. Ziehen Sie bitte ein Fazit hinsichtlich des Ge- oder Misslingens der Schlusspointe.

Überwiegt bei Ihnen insgesamt der Eindruck, bei „Selbstauswilderung“ handle es sich um eine eigenschöpferische Leistung des/der Autors/Autorin oder sehen Sie eher Wilderei am Werk? Oder Vampyrismus?

Hintergrund: Materialien zu Piefke und der Piefke-Saga

 

–> Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) 1/2015 Thema „1815“

Piefke zum Zweihundertsten

Statt eines Lexikoneintrags (der in den einschlägigen Nachschlagewerken fehlt)

 

Spätestens Anfang der 90er Jahre war die fernsehgebildete Welt im deutschsprachigen Raum darüber in Kenntnis gesetzt, was es mit „den Piefkes“ auf sich hatte. Wilfried Dotzel und Werner Masten drehten 1990 im Zuge einer Gemeinschaftsproduktion des Norddeutschen Rundfunks (NDR) und des ORF einen Dreiteiler nach dem Drehbuch des Schriftstellers und Dramatikers Felix Mitterer. Der hatte ein Hauptmotiv von Ralph Benatzkys Berliner Erfolgsoperette Im weißen Rößl (1930) und zahlreicher Heimatfilme der 50er bzw. 60er Jahren aufgegriffen: Den alljährlich sich wiederholenden Einmarsch wohlhabender Norddeutscher, vornan preußisch sozialisierter Berliner Unternehmerfamilien, zur Sommerfrische in den Alpen – bevorzugt den Tiroler Tälern. Die Filmvorlage erschien 1991 zur Nachbereitung und zur Erbauung von Fernsehscheuen im Haymon-Verlag auch als Buch. 1993 wurde ein besonders delikater und maliziöser vierter Teil der Piefke-Saga mit Drehort Alpbach nachgereicht.

Zuvor war Mayrhofen im Zillertal als ‚Lahnenberg’ telegen geworden. Einem großen Publikum rückte ins Bewusstsein, wie grundverschieden und zu Missverständnissen prädisponiert die mehr oder minder charakteristischen Vertreter der jeweiligen Volksgruppen sind. Wie das Genre es nahelegt, führten Mitterer und die Regisseure „Eigenheiten“ der mit ihrer damals noch harten bundesdeutschen Währung zahlenden arroganten und großkotzigen Gäste vor – und ebenfalls wenig schmeichelhaft, mitunter herzhaft peinlich die Einheimischen. Die Abgründe sprachlicher und erotischer Unvereinbarkeit wurden mit heiterem Sarkasmus ausgeleuchtet. Da war Musik verschiedener Schattierungen drin. Den Anfang nahm die um die Berliner Unternehmerfamilie Sattmann sich rankende Saga mit einem Rekurs auf eine in Wien aufgezeichnete Folge der Fernsehshow Auf Los geht’s los von 1982. In der warf Joachim Fuchsberger die Frage auf, wie viele der neun aus dem Publikum ausgewählten repräsentativen Personen „die Deutschen prinzipiell Piefke“ nennen. Es ergab sich eine satte Zweidrittelmehrheit.

Warum ausgerechnet Piefke?

Dass sich dieser Kosename zuerst für „die Preußen“, dann in großzügiger Weiterung für „die Deutschen“ einbürgerte, geht wohl auf die Wunden zurück, die dem österreichischen Selbstbewusstsein die Schlacht von Königgrätz (heute: Hradec Králové) schlug. Mit ihr ging der Krieg Preußens gegen Österreich-Ungarn und die Truppen des Deutschen Bundes am 3.7.1866 verloren. Nach der verlustreichen Bataille rund hundert Kilometer östlich von Prag stieß mit den siegreichen preußischen Truppen auch der baumlange Militärkapellmeister Johann Gottfried Piefke (1815–1884) auf Wien vor. Beim Einzug in die Stadt marschierte er, wie sein ebenfalls besonders hochgewachsener und als Militärmusiker tätiger Bruder Rudolf (1835–1900), an der Spitze der Musikkorps. Die für das Tschingderassabumm empfänglichen WienerInnen am Straßenrand sollen gerufen haben „Die Piefkes kommen!“ Von daher, so die nicht ganz zuverlässige Überlieferung, rühre die zeitbeständige Bezeichnung für die Preußen und Deutschen in toto her.

Wohl waren die beiden Piefkes auch bei der Siegesparade im Einsatz. Die wurde auf Geheiß des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck aus Rücksicht auf zukünftige Bündnisse rund zwanzig Kilometer vor den Toren Wiens bei Gänserndorf anberaumt. Dort steht seit 2009 ein touristisch wertvolles Denkmal („Klangskulptur aus Cortenstahl“). 1866 wurde den Habsburgern die Demütigung eines musikalisch deftig angeheizten Triumphzugs in ihrer Hauptstadt erspart. J.G. Piefke triumphierte beim Open-Air-Event auf dem Marchfeld mit einem funkelnagelneuen Königgrätzer Marsch.

Zum Zeitpunkt von dessen Entstehung war dieser Piefke bereits ein – vornan von Theodor Fontane – gefeierter Kriegsheld (die Würdigung der kompositorischen Qualitäten spielt in den zeitgenössischen Quellen eine höchst untergeordnete Rolle). Im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864, den Österreich-Ungarn und Preußen noch als Verbündete bestritten, befehligte er beim Sturm auf die Düppeler Schanzen an vorderster Front ein rund 300 Mann starkes Musikkorps. Mit gezogenem Degen, an den er die preußische Fahne geheftet hatte, soll er für den Yorkschen Marsch von Ludwig van Beethoven die Signale gegeben haben.

Angeblich auf autobiographische Aufzeichnungen Piefkes geht ein Bericht zurück, den die Frankfurter Oder-Zeitung am 22.4.1914 druckte – in einem Klima, das den großen Krieg vorbereitete: „Als die Chöre [damals eine übliche Bezeichnung für Musik-Korps oder Heeres-Orchester; Anm. d. Verf.] in der Parallele geordnet waren, bestieg ich die Brustwehr und wartete des Augenblicks, wo die Sturmkolonnen würden hervorbrechen. Sofort als dies geschah, gab ich mit meinem, mit der preußischen Flagge geschmückten Degen in der Hand, das Zeichen zum Sturmmarsch und fiel, als nach höchstens 5 bis 6 Minuten auf Schanze 3 meines allergnädigsten Königs und Herrn Fahne in frischer Morgenluft prangte und das Preußische ‚Hurra’ jubelnd herübertönte, mit einem dreimaligen Tusch ein, welchem unmittelbar ‚Heil Dir im Siegerkranz’ folgte.“ Das Dirigat von Düppel trug Piefke im März 1865 den eigens für ihn geschaffene Titel Director der gesamten Musikchöre des III. Armeekorps ein, mit dem der Preußenkönig Wilhelm I. ihn erhöhte, sowie die Goldene Verdienstmedaille des Kaisers Franz Joseph.

Das Feuilleton hat, mehr als die ebenfalls akribisch nachrecherchierende Wissenschaft, den Militärmusikzuchtmeister P. bereits herauf- und hinunterdekliniert. Er ist in Zeiten, in denen die preußischen Sekundärtugenden nicht mehr hoch im Kurs, sondern eher unter permanentem Anfangsverdacht stehen, ein gefundenes Kanonenfutter. Naheliegend war die Frage, „ob die Bedeutung der Musik bei der Schlacht von Düppel überhaupt eine so große Rolle gespielt hat, wie spätere ‚Heldengeschichten’ Glauben machen wollen“ (Flensburger Tageblatt vom 13.4.2014). Der Name Piefke, „dessen slawischer Ursprung piwek oder piwko auch ‚Säufer’ bedeuten kann, wanderte erst von Schlesien nach Berlin, nachdem Friedrich der Große die Provinz den Habsburgern abgejagt hatte. Heute, meint Namensforscher Godeysen, sei der ‚Piefke’ nach wie vor die ‚heimliche Rache der Österreicher für Königgrätz’. Heimlich, weil oft viele Deutsche gar nicht wüssten, wie sie hinter ihrem Rücken abqualifiziert würden. Königgrätz, weil erst im Anschluss an das k. k. Debakel diese einst populäre Witzfigur mit einem ganzen Arsenal negativer Vorurteile aufgeladen wurde“, resümierte Joachim Riedl in „Zeit online“ (22.8.2007). Womöglich geht die Genese der Denkfigur Piefke auf die Zeit lange vor Königgrätz zurück. Bereits im biedermeierlichen Wien, meint Riedl, „trat Piefke gerne mit seinem Alter Ego Pufke in Aktion. Die beiden waren so populär, dass Johann Strauß Vater dem Meckerduo sogar eine Polka widmete“. Riedl verwies beiläufig auch auf die Lernfähigkeit des Heldenmusikers von Düppel: „Statt der in Berlin gebräuchlichen Tenorhörner und Kornetts führte er zur militaristischen Beschallung Flügelhörner und Euphonien ein, die uniformierte Kapellen im Habsburgerreich auszeichneten.“ Denn „Weichheit und Fülle des Tons“, so argumentiert er in Berufung auf eine weiters nicht belegte Berliner Dissertation von 1936, „machten die Flügelhörner den rohen Kornetts überlegen.“

Der große Augenblick in Johann Gottlieb Piefkes Künstlerbiographie war zweifellos die Schlacht bei Düppel – ihn verstand er für so nachhaltig wirksame Werke wie Düppeler Schanzen-Sturmmarsch (heute: Düppeler Schanzen-Marsch) und den Düppeler Sturmmarsch zu nutzen. Ein früher Hinweis, dass ein Düppelmarsch vor Ort – wenn auch nach dem Gefecht – erklang, findet sich in Signale für die Musikalische Welt (28.4.1864): „Bei dem Siegesfest am Montag im Kroll’schen Locale kam auch zum ersten Mal der ‚Düppel-Marsch’ vom Musikdirektor des Leibregiments Piefke hier zur Aufführung.“ Es fehlte diesem Militärtonkünstler weder an Selbstbewusstsein noch an Vermarktungsgeschick: Ein halbes Jahr nach der Schlacht gegen die Dänen las man in der preußischen Hauptstadt: „Man passire irgend eine Straße in Berlin, wo das Volksleben heimisch ist – was hört man singen? Den Düppeler Schanzen-Marsch; was hört man da pfeifen? Den Düppeler Schanzen-Marsch; was hört man dort trillern? Den Düppeler Schanzen-Marsch. Überall Düppel und wiederum Düppel. Es giebt nicht einen Menschen in Berlin, sei er noch so hoch, sei er noch so niedrig, der die Klänge des Marsches nicht inne hätte.“ (Neue Berliner Musikzeitung, 12.10.1864)

Den nachhaltigsten Ruhm trug Gottfried Piefke freilich durch den Kriegsberichterstatter Fontane davon. Der huldigte ihm in seinem Buch Der Schleswig-Holsteinische Krieg im Jahre 1864 und widmete ihm – zusammen mit einem heute restlos vergessenen Selbstmordattentäter – ein wuchtiges Gedicht (publiziert einen Monat nach der Schlacht in der Berliner Kreuz-Zeitung):

 

Der Tag von Düppel

Still! Vom achtzehnten April

Ein Lied ich singen will.

Vom achtzehnten – alle Wetter ja,

Das gab mal wieder ein Gloria!

Ein »achtzehnter« war es, voll und ganz,

Wie bei Fehrbellin und Belle-Alliance,

April oder Juni ist all einerlei,

Ein Sieg fällt immer in Monat Mai.

 

Um vier Uhr morgens der Donner begann!

In den Gräben standen sechstausend Mann,

Und über sie hin sechs Stunden lang

Nahmen die Kugeln ihren Gang.

Da war es zehn Uhr. Nun alles still,

Durch die Reihen ging es: »Wie Gott will!«

Und vorgebeugt zu Sturm und Stoß

Brach das preußische Wetter los.

 

Sechs Kolonnen. Ist das ein Tritt!

Der Sturmmarsch flügelt ihren Schritt;

Der Sturmmarsch, – ja tief in den Trancheen

(Anm.: dies sind Erdarbeiten, durch die sich Soldaten einer angreifenden Armee mit [bedingter] Deckung einer belagerten Festung oder Stellung nähern können)

Dreihundert Spielleut’ im Schlamme stehn.

Eine Kugel schlägt ein, der Schlamm spritzt um,

Alle dreihundert werden stumm –

»Vorwärts!« donnert der Dirigent,

Kapellmeister Piefke vom Leibregiment.

 

Und »vorwärts« spielt die Musika,

Und »vorwärts« klingt der Preußen Hurra;

Sie fliegen über die Ebene hin,

Wer sich besänne, hätt’s nicht Gewinn;

Sie springen, sie klettern, ihr Schritt wird Lauf –

Feldwebel Probst, er ist hinauf!

 

Er steht, der erst’ auf dem Schanzenrück,

Eine Kugel bricht ihm den Arm in Stück:

Er nimmt die Fahn’ in die linke Hand

Und stößt sie fest in Kies und Sand.

Da trifft’s ihn zum zweiten; er wankt, er fällt:

»Leb wohl, o Braut! leb wohl, o Welt!«

 

Rache! – Sie haben sich festgesetzt,

Der Däne wehrt sich bis zuletzt.

Das macht, hier ficht ein junger Leu,

Herr Leutnant Anker von Schanze zwei.

Da donnert’s: »Ergib dich, tapfres Blut,

Ich heiße Schneider, und damit gut!« –

Der preußische Schneider, meiner Treu,

Brach den dänischen Anker entzwei.

 

Und weiter, – die Schanze hinein, hinaus

Weht der Sturm mit Saus und Braus,

Die Stürmer von andern Schanzen her

Schließen sich an, immer mehr, immer mehr,

Sie fallen tot, sie fallen wund, –

Ein Häuflein steht am Alsen-Sund.

 

Palisaden starren die Stürmenden an,

Sie stutzen; wer ist der rechte Mann?

Da springt von achten einer vor:

»Ich heiße Klinke, ich öffne das Tor!« –

Und er reißt von der Schulter den Pulversack,

Schwamm drauf, als wär’s eine Pfeif’ Tabak.

Ein Blitz, ein Krach – der Weg ist frei –

Gott seiner Seele gnädig sei!

Solchen Klinken für und für

Öffnet Gott selber die Himmelstür.

 

Sieg donnert’s. Weinend die Sieger stehn.

Da steigt es herauf aus dem Schlamm der Trancheen,

Dreihundert sind es, dreihundert Mann,

Wer anders als Piefke führet sie an?

Sie spielen und blasen, das ist eine Lust,

Mit jubeln die nächsten aus voller Brust,

Und das ganze Heer, es stimmt mit ein,

Und darüber Lerchen und Sonnenschein.

 

Von Schanze eins bis Schanze sechs

Ist alles deine, Wilhelmus Rex;

Von Schanze eins bis Schanze zehn,

König Wilhelm, deine Banner wehn.

Grüß euch, ihr Schanzen am Alsener Sund,

Ihr machtet das Herz uns wieder gesund! –

Und durch die Lande, drauß und daheim,

Fliegt wieder hin ein süßer Reim:

»Die Preußen sind die alten noch,

Du Tag von Düppel lebe hoch!«

 

Gerade in heutiger Zeit ist dem gut informierten Leser bewusst, wiesehr die mediale Darstellung von militärischen Konflikten nicht nur die Akzeptanz in einer womöglich nicht sonderlich kriegerisch gestimmten Gesellschaft befördert, Opfer und Kollateralschäden als notwendige Übel vermittelt und letztlich in politischen Entscheidungsprozessen kriegsentscheidend sein kann – unabhängig vom Tatsachen- oder Wahrheitsgehalt.

 

Preußens Gloria

Piefke stand als Tonkünstler in solider deutscher Tradition und hat es weiter gebracht als seine Vorfahren. Er erblickte am 9.11.1815 in Schwerin an der Warthe das Licht der Welt – als Sohn des Organisten und Stadtmusikers Johann Piefke und dessen Frau Dorothea. Seinen Wehrdienst leistete er als Hoboist beim Leibgrenadier-Regiment Nr. 8 in Frankfurt (Oder) ab, studierte dann an der Hochschule für Musik in Berlin, wurde 1859 zum Königlichen Musikdirektor befördert, nahm an den bereits erwähnten Kriegen gegen Dänemark und Österreich teil. Während des deutsch-französischen Kriegs erkrankte er 1870 bei der Belagerung von Metz (war daher beim Sieg und den Feiern in Versailles 1871 nicht dabei). Der Rest der Lebenszeit – er starb am 25.1.1884 und wurde mit militärischen Ehren in Frankfurt (Oder) beerdigt – verlief recht zivil: Es war eine von zahlreichen Konzerte und Konzertreisen erfüllte Existenz. Durch sie erwuchs, trotz der Erfolge mit Preußens Gloria, dem Pochhammer-Marsch, dem Gitana– und dem Margarethen-Marsch, dem Kaiser-Wilhelm-Siegesmarsch sowie dem Alsenströmer, den wirkungsmächtigen Schöpfern der österreichischen Militärmusik keine dauerhafte große Konkurrenz. Wenigstens diesen Konflikt mit dem Piefke hat die Donaumonarchie für sich zu entscheiden gewusst.

Anmerkungen:

Ausschlaggebend für den Sieg der Preußen war, wie der Musikwissenschaftler und Militärhistoriker Boris von Haken freundlicherweise mitteilte, der Einsatz modernster Kanonen der Firma Krupp, die die Befestigung der Dänen zerstört haben. Fontane ignoriert diese Technologie und stellt vormoderne, romantische Elemente in den Vordergrund: Das Selbstopfer und die Macht der Musik.

Eine Kurzfassung dieses Essays findet sich in Musik und Gesellschaft, Bd. 2, S. 91–93.

 

Musik und Gesellschaft, Bd. 2, S. 531–533  2010 Essay (Carolin Stahrenberg)

Mutationen eines alten Gauls

Das Weiße Rößl in acht Jahrzehnten

Erstaunlich wetterresistent steht immer wieder das Glück vor der Tür. Das am 8. November 1930 uraufgeführte dreiaktige Singspiel Im weißen Rößl, die Frühform eines deutschen Musicals, erfuhr in seiner mehr als achtzigjährigen Aufführungsgeschichte zahlreiche Metamorphosen: Von der auf Masse und visuelle Überwältigung setzenden Revue bis zur klavierbegleiteten satirischen Kleinfassung reicht das Spektrum, vom Zupf-Ensemble übers große Orchester bis zur Jazz-Band die Bandbreite für die Arrangements der Schlager von Ralph Benatzky, Robert Gilbert, Bruno Granichstaedten, Robert Stolz und Hans Frankowski. Auch in Österreich ist das Rößl ein »Dauerbrenner« geworden – trotz des ursprünglichen Zuschnitts auf das Berliner Publikum. Bereits ein Jahr nach der Premiere im Großen Schauspielhaus holte es Hubert Marischka ans Wiener Stadttheater. Karl Farkas setzte es aufwendig in Szene. In der farbenfroh ausgestatteten und mit »Girls« choreographierten Show spielte er selbst den Schönen Sigismund. Das Textbuch – es basiert auf einem preußischen Lustspiel von Oskar Blumenthal und Gustav Kadelburg (1896) – wurde an einigen strategischen Punkten verändert, sodass der Kritiker der Neuen Freien Presse nach der Aufführung zufrieden vermerken konnte: »Im Ausland war ja das Weiße Rößl zum Teil ein Lacherfolg auf unsere Kosten. In der Wiener Fassung können wir selber mitlachen«. Marischka und Farkas hatten, so die Presse, das Stück in einen »gemütlichen österreichischen Rahmen« gesetzt und es ganz »aus der parodistisch-ironischen Berliner Tonart Erik Charells ins Realistisch-Liebenswürdige transponiert«. Dem Publikum gefiel’s und das Rößl konnte mit über 700 Vorstellungen auch in Wien eine Erfolgsserie verbuchen. Zeitgleich mit der Stadttheater-Produktion lief nicht nur im Simpl eine klein besetzte Parodie Im schwarzen Rößl, sondern an anderen Varieté-Theatern auch das braune und das schwarz-weiße Rößl. Die Theater Salzburg und Innsbruck spielten das Singspiel ebenfalls, in Altaussee und Gastein gab es »Dilettanten-Vorstellungen«. Durch Vorarlberg tourte 1932 eine Produktion der Württembergischen Volksbühne, deren Mittel den Mehrzweck-Sälen angepasst werden mussten – die Tanzschar beschränkte sich hier auf vier Tänzerinnen. 1937 erreichte die Auberge du Cheval-Blanc Frankreich. Das Stück gelangte auch nach Großbritannien sowie in die USA. In Österreich wurde es nach dem »Anschluss« 1938 nicht mehr aufgeführt – als »jüdisch« und damit inakzeptabel galten u.a. der ursprüngliche Produzent Erik Charell (Erich Karl Löwenberg), der Librettist Hans Müller(-Einigen) sowie der für die Liedtexte und den Song Was kann der Sigismund dafür verantwortliche Robert Gilbert. Auch Farkas aus dem Wiener Produktionsteam musste emigrieren.

Nach Kriegsende war das Rößl eines der ersten Stücke, das wieder gespielt wurde. Ende November 1945 brachte die Wiener Operettenbühne in Hainburg Im weißen Rößl zur Aufführung. In Salzburg lief es ab 1947 in vier Spielzeiten und auch Graz spielte das Stück 1948. Mit den veränderten Rahmenbedingungen des Drei-Sparten-Theaters und einem sich wandelnden Publikumsgeschmack änderte sich auch das Rößl. In Zürich 1946 setzte man beispielsweise »einen deutlichen österreichischen Akzent unter Verdrängung aller nordischen Pointen«, so eine Kritik, »eine tunliche Distanzierung von allem, was an den Drillstil der Berliner Revuen der Dreißigerjahre« erinnern könnte – kein Wunder, dass das Stück in den folgenden Jahren unter dem (Wiener) Label der »Operette« firmierte. Man setzte nun auf individuelle Zeichnung der Tänzerinnen und Tänzer und die Herausarbeitung eines kontinuierlichen Handlungsfadens. 1952 wurde dann auch eine musikalische Umarbeitung präsentiert, in der das Rößl die nächsten Jahrzehnte über die Bühne ging.

Die »Rekonstruktionsfassung« von 2010 versprach, das Rößl im klanglichen Ursprungsgewand von 1930 zu präsentieren. Sie weckte damit neues Interesse an dem Stück: Es gab große Produktionen in Graz/Wien, Salzburg und Klagenfurt. In Innsbruck setzte man im freien »Staatstheater« auf die klein besetzte Fassung, die 1994 in Berlin für die Bar jeder Vernunft entstanden war. Die Anknüpfung an die Theaterformen Revue, »Revueoperette« und Kabarett wurde bei all diesen Neuproduktionen großgeschrieben.

Behauptete die Neue Freie Presse 1931 noch (seltsamerweise), das Stück kehre jetzt »in die Heimat zurück« (und meinte damit Österreich), so besinnt man sich heute auf den norddeutschen (Vorkriegs-)Kontext und zeigt das Rößl bewusst »als ein Stück von Berlinern ›über euch‹«, wie es Andreas Gergen, der Regisseur einer neuen Salzburger Inszenierung, ausdrückte. Das Publikum zeigte die Souveränität, auch über Scherze »auf eigene Kosten« mitzulachen. Im Zentrum des Witzes stehen im Rößl ja Bürger Berlins und St. Wolfgangs gleichermaßen, lechts und rinks nationaler und mentaler Grenzen. Ohnedies ist davon auszugehen, dass das sommerliche Glück noch so manches Jahr vor der Tür steht. So oder so.

Carolin Stahrenberg

Verwendete und weiterführende Literatur:

– Ulrich Tadday (Hg.), Im weißen Rössl. Zwischen Kunst und Kommerz, Musik-Konzepte Bd. 133/134, München 2006.

– Carolin Stahrenberg, »›Der unverwüstliche Gaul‹ kehrt in die Heimat zurück«, in: Österreichische Musikzeitschrift ÖMZ 3 (2016), S. 22–24.

Quelle: Frieder Reininghaus, Judith Kemp, Alexandra Ziane (Hg.): Musik und Gesellschaft. Marktplätze. Kampfzonen. Elysium, Königshausen & Neumann, Würzburg 2020, Bd. 2, S. 531–533.